Die Sonne schimmerte gerade durch einen Streifen Zirruswolken, als der Zug in den kleinen Bahnhof von Hohenweiler einfuhr. Die zumeist mit roten Ziegeldächern gekrönten Fachwerkhäuser säumten die durch das Tal schlängelnde Straße. Über den baumbewachsenen Berghängen schwebten zerzauste Nebelfetzen, die gemächlich über die Wipfel der Bäume hinwegglitten.
Isabelle legte die Bahnbroschüre auf den leeren Nebenplatz, griff nach ihrem kleinen Koffer und verließ das nun verwaiste Abteil. Mit ihr stiegen drei weitere Fahrgäste aus. Der Bahnsteig mit dem dahinter aufragenden Bergpanorama wirkte wie eine jener Kitschpostkarten, die sie als Kind gesammelt hatte. Es waren meist die Postkarten ihres Vaters, der Mutter kurz nach Isabelles siebten Geburtstag verlassen hatte. Sie bewahrte sie noch heute in einer kleinen Pappschachtel auf. Angeschaut hatte sie sich die Karten jedoch schon lange nicht mehr. Sie waren Teil ihrer Vergangenheit, wie auch ihr Vater.
Über dem Bahnhofsgebäude wechselte die Anzeige alle paar Sekunden zwischen 8:32 Uhr und 23 C°. Sanfter Wind blies ihr eine längere Haarsträhne ins Gesicht, die sie sich mit routinierter Bewegung hinter ihr rechtes Ohr strich. Isabelle lief weiter. Hinter dem Bahnhof befand sich eine Bushaltestelle mit Wartehäuschen. Auf dem kleinen Parkplatz links von ihr entdeckte sie den rot lackierten Opel Adam. Die Verleihfirma, dessen Logo auffällig auf der Kühlerhaube prangte, hatte ihr den Wagen tatsächlich hier vor Ort bereitgestellt. Ein angenehmer und sehr entgegenkommender Service. Die Touristeninformation lag keine 50 Meter von hier. Dort warteten der Fahrzeugbrief und die Fahrzeugschlüssel auf Abholung.
Hohenweiler lag schon einige Fahrminuten hinter ihr. Die Sonne fächerte durch die dicht stehenden Nadelbäume und ließ die Temperatur weiter ansteigen. Während Isabelle mit dem Wagen die Landstraße entlang fuhr, kreisten ihre Gedanken beständig um Roger Gallut. Der Künstler war vor zwei Jahren aus den Staaten nach Deutschland gekommen, hatte sich ein abgelegenes Anwesen gekauft und lebte dort zurückgezogen. Vor über einem Jahr hatte er mit einer bemerkenswerten Ausstellung in München Aufsehen erregt. Es waren zwar nur fünf Exponate, diese sorgten jedoch für eine regelrechte Sensation auf dem Kunstmarkt. Es handelte sich dabei um Skulpturen von außergewöhnlicher Machart. Nicht nur dass die Exponate Galluts unglaubliche Detailfreude verrieten, so fielen einige Besucher sogar in einen tranceartigen Zustand. Gallut hatte einem Bericht nach, etliches an Räucherwerk entzündet. Man vermutete, dass es sich um halluzinogene Substanzen handelte. Genaueres ließ sich aber nicht herausfinden.
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.