Als sie mit seinem Bier und dem Gedeck kam, fragte er, ob sie ihm wohl eine aktuelle Zeitung bringen könne.
"Wir haben nur die Lokalzeitung. Und aktueller? Tja, die für morgen ist vermutlich noch nicht einmal geschrieben", sagte sie mit einem Lächeln.
Fritz unterlies zu fragen, welcher Tag den heute sei. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass diese Frage unpassend wäre.
Nachdem er sein Menü bekommen und gegessen hatte, bezahlte er und wollte zum Bahnhof weiter. Er entschloss sich aber, zuvor in seinem Büro anzurufen. Der Wirt stellte ihm das Telefon auf die Schank und schaltete den Zähler ein.
Fritz wählte die Rufnummer. Nach dem ersten Rufsignal hörte er die Ansage des Anrufbeantworters. Er hinterlies die Mitteilung, dass er sich um einen Tag verspätet habe, dass alles in Ordnung sei und er sich am Nachmittag nochmals melden würde. Dann legte er nachdenklich auf. Wieso fragte er sich, ist niemand im Büro?
Der Wirt las die Gebühr vom Zähler ab und nannte sie.
Fritz sagte: "Die Gebühr und noch zwei Schnäpse, wenn ich sie auf einen einladen darf".
"Danke. Gerne," antwortete dieser. Er goss Schnaps in zwei Gläser und die Männer prosteten einander zu.
Von wo er denn komme, wollte der Wirt von Fritz wissen.
Er habe auf der Stoaalm übernachtet und sei dann direkt zum Schutzhaus abgestiegen, antwortete er.
"Auf der Stoaalm?" fragte der Wirt. "Gezeltelt?" fügte er fragend an.
"Nein, die Leute von der Alm haben mich übernacht beherbergt. Nach einem ausgiebigen Frühstück machte ich mich dann auf meinen Weg;" antwortete Fritz.
Der Wirt erstarrte. Dann richtete er sich auf und griff nach der Schnapsflasche.
"Die gehen aufs Haus", sagte er, als er die Gläser bis zum Rand füllte.
"Sie haben im Haus der Familie Leitenkogler übernachtet. Dort gefrühstückt" er machte eine Pause und Fritz sah wie seine Hände zitterten "Herr!" rief er dann "die Stoaalm wurde vor vielen Jahren von einer Felslawine verschüttet. Alle drei Leitenkoglers, Vater, Mutter und Tochter wurden getötet. Am Friedhof im Dorf sind ihre Gräber. Ich selbst habe geholfen die Leichen ins Tal zu bringen. Dort oben steht kein Haus, kein Mensch bewirtschaftet die Alm!" nun trank er sein Glas in einem Zug leer und füllte es neuerlich.
"Aber Maria, die Tochter, hat mir ein Geschenk gegeben. Ich hole es," sagte Fritz und nahm das kleine Paket aus seinem Rucksack. Seine Hand tastete in der Seitentasche, aber anstatt den Stoff in dem das Päckchen gehüllt war zu ertasten, wühlten seine Finger in einem Bündel aus getrocknetem Moos und Flechten.
Das Bündel legte er auf die Schank. Er griff nach seinem Glas und auch er leerte es in einem Zug.
Der Wirt füllte nach.
Schweigend blickten sie auf das zwischen ihnen liegende Gemisch aus trockenem Moos und Flechten.
"Welcher Tag ist heute?" fragte Fritz flüsternd. Sein Mund war so trocken, dass ihm das Sprechen schwer fiel.
"Sonntag," antwortete der Wirt. "Sie sollten mit unserem Pfarrer reden," fügte er noch an.
"Nein," entschied Fitz "ich werde auf den Friedhof gehen."
"Seien sie vorsichtig" warnte der Wirt.
Fritz wollte die beiden Schnäpse und sein Telefongespräch zahlen.
"Ich bekomme nur die Telefongebühr" sagte der Wirt "alle Schnäpse gehen aufs Haus."
Eine tiefe Traurigkeit fühlte Fritz in sich aufsteigen. Rasch ging er dem Dorf entgegen, sah schon von weitem die Kirche hinter welcher der Friedhof lag.
Eine niedere Steinmauer mit einem schmiedeeisernen Tor umgab den Friedhof. Der Wirt hatte Fitz noch erklärt wo die Gräber der Familie Leitenkogler zu finden seien. Als er vor dem Grab mit der Inschrift auf dem Stein: "Maria Leitenkogler" stand, fühlte er seine Tränen aufsteigen.
Und wenn ich geblieben wäre? dachte er. Was wäre mit uns geschehen?
Eine Krähe setzte sich auf den Grabstein.
Fritz sah sie an.
"Maria?" flüsterte er.
Die Krähe flog auf seine Schulter. Langsam hob er die Hand und strich dem Vogel zärtlich über den Rücken.
"Maria" wiederholte er fest.
Die Krähe flog auf einen nahen Baum. Lange Blickte er in die Augen des Vogels.
Dann nahm er seinen Rucksack auf und ging zum Bahnhof.
Stoaalm
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