Sturm und Krise

Nach dem großen Sterben – Teil 24

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Sturm und Krise

Sturm und Krise

Reinhard Baer

Der Truck war inzwischen beladen und abfahrbereit. Ich schlug auf die Motorhaube. „Los, Vollgas!“ Dann sprang ich in den Dogde und folgte dem Dreiachser der nach dem Abbiegen vom Highway auf die ‚Dirt Road‘ nach Cerespoly so viel Fahrt aufnahm wie es dem behäbigen Fahrzeug möglich war. Obwohl von einem Kugelhagel aus vielen automatischen Gewehren eingedeckt, hielt der Fahrer kaltblütig auf das Tor zu. Als er es durchbrach, wurde er kaum aufgehalten. Mit lautem Bersten zersplitterten die Reste des schweren Tores. Etwa 10 Meter im Inneren schlug der Fahrer nach links ein und bot den beiden Türmen eine seiner verstärkten Seitenwände. Die Turmbesatzungen hatten keine Chance, denn die Türme waren zum Lagerinneren nicht befestigt. Die Wachen waren dem Kugelhagel schutzlos ausgeliefert. Wie ich später feststellen musste, erwischte es dabei leider auch zwei 14 oder 15jährigen Jungen.

In diesem Moment galt aber meine Priorität Jill. Wir umfuhren den quergestellten Laster und rasten zum Haupthaus der ehemaligen Farm. Als wir aus unserem Pickup hinaussprangen, sah ich Henry mit seinen Männern im zweiten Fahrzeug das Haus umrunden. Die massive vordere Haustür war verschlossen und wir benötigten viel zu viel Zeit um einzudringen. Währenddessen entwickelte sich auf der Rückseite des Hauses ein Schusswechsel. Als wir endlich ins Haus stürmten brach für mich – mal wieder – eine Welt zusammen. In der großen Vorhalle zu Sues Büro lag Jill mit durchschnittener Kehle, das Blut sprudelte noch aus ihrer Halsschlagader. Ich wusste, dass jede Hilfe hier zu spät kam, dennoch musste ich mit aller Kraft den Impuls bekämpfen mich hinzuknien und Jill in meinen Armen zu wiegen. Das musste warten, mein Hass auf Sue verschaffte mir die Kraft den Schmerz zurückzudrängen und weiterzulaufen.

Sue

Die Tür zum Garten war offen. Seitlich stand der zweite Pickup, aus zwei der offenen Türen hingen die zusammengekrümmten Leichen des Fahrers und des hinter ihm sitzenden Mannes. Henry und der andere Mann hatten sich auf der anderen Seite aus dem Auto retten können. Sie lagen beide offenbar schwer verwundet in ihrem Blut. Suchend schaute ich mich um. Da sah ich sie wegreiten, Sue und drei ihrer Flintenweiber, auf dem Weg zu einem der Seitenausgänge. Ich erkannt unter den Begleiterinnen ‚Olivia die Angepisste‘, die Wache über der sich Jill mal fröhlich erleichtert hatte in der Nacht unserer Flucht. Kurz bevor sie eines der kleinen Seitentore erreichten, drehte Sue ihr Pferd. Mit einem durchs Mark gehenden bösen Blick schaute sie mich unverwandt an. Dann machte sie mit ihrer Hand das Zeichen des Halsaufschlitzens.
Bevor ich mein M24 vom Rücken hatte, war sie den anderen drei durch die kleine Pforte gefolgt. Ich hatte verloren! Jill tot, Sue entkommen, - eine wenig erfolgreiche Mission.

Zumindest für mich persönlich, denn es stellte sich heraus, dass der sonstige Verlauf nicht so unerfreulich gewesen war. Die anderen Guards hatten sich schnell ergeben, so dass es außer am Haupttor sowie an der Jurte und am Haupthaus zu keiner weiteren Schießerei mehr gekommen war. Am Tor waren insgesamt sechs Guards niedergeschossen worden, an der Jurte vier weitere. Drei von ihnen würden es voraussichtlich überleben. Bei uns hatte es nur die Mannschaft von Henry schwer erwischt. Hier gab es zwei Tote. Henry hatte einen Oberkörperdurchschuss, bei dem aber offenbar kein lebenswichtiges Organ getroffen worden war, der zweite Mann hatte zwei Schüsse in den Oberschenkel erhalten, Durchschüsse, auch er würde wieder. Beim ganzen Rest der Mannschaft gab es lediglich zwei leicht verwundetet, wobei einer sich depperter Weise beim Abspringen vom Truck selbst in den Fuß geschossen hatte. Der Spott aller war dem armen Mann gewiss, denn die Männer waren froh, ihrer Anspannung so Luft machen zu können.

Ich, der harte Hund, der Lonely Rider, ging ins Haus zurück, konnte vor lauter Tränen in den Augen kaum etwas sehen. Neben Jill sackte ich zu Boden. Dann hielt ich sie im Arm. Das viele Blut war mir völlig egal. Mit toten gebrochenen Augen sah Jill mich an. Ich musste ihr die Augen schließen, aber ich konnte nicht, das musste warten. Meine blutverschmierten Finger sollten ihr zartes Gesicht nicht entstellen. Sie war für ihren größten Wunsch gestorben, die Befreiung ihrer Freundinnen in Westward Falls, aber konnte mich das trösten?

Die Männer ließen mich gewähren. Lange habe ich dagehockt. Warum musste sich Geschichte immer wiederholen? Ich brachte den Frauen die sich auf mich einließen kein Glück. Wegen mir waren sie tot. Erst Sandra, jetzt Jill. Ich hatte sie einfach nicht beschützen können. Solche merkwürdigen Dinge gingen mir damals durch den Kopf, dabei war doch ein Herzenswunsch von Jill in Erfüllung gegangen. Cerespoly konnte als Westward Falls wieder auferstehen. Schluss mit dem Sektenquatsch!
Als ich endlich nach draußen in die Sonne dieses schönen Frühlingstages trat, sah ich die gefangenen Guards mit den Händen im Nacken im Staub vor dem Farmhaus knien. 11 Frauen und vier Jungen. Im Schatten eines Schuppens wurden die verletzten Frauen und unsere Verwundeten notdürftig versorgt.
Alle hatten auf mich gewartet. Jill war tot, Henry schwer verwundet. Ich war der einzige der noch Befehlsautorität hatte.
Alle Frauen der Siedlung, auch die ehemaligen Gefangenen, denen ihre Fußfesseln längst abgenommen worden waren, hatten sich versammelt. Marten hatte Mühe mit einigen Helfern die aufgebrachten Frauen von den Gefangenen fern zu halten. Sie standen im Kreis um Sues Helfer herum, diese beschimpfend und bespuckend.
Es dauerte eine Weile bis ich mir Ruhe verschafft hatte. Dann hielt ich die kleine Ansprache, die sich Jill und Henry mit mir zusammen in Grundzügen ausgedachten hatten.

„Frauen von Westward Falls, … ihr seid frei. Wir werden euch in den nächsten Tagen helfen in ein zivilisiertes Leben zurückzufinden. Was wir nicht wollen ist blindwütige Rache und Anarchie. Schuldige werden bestraft werden, das verspreche ich Euch. Sue ist mit drei anderen Frauen entkommen. Auch sie werden zur Rechenschaft gezogen, sobald wir sie fassen. Legt diese Frauen hier in Fußfesseln. Sonst wird ihnen erst einmal nichts geschehen. Morgen werden wir eine öffentliche Verhandlung dazu durchführen und jede von Euch kann vortragen was gegen diese Frauen vorliegt. Mit ungeregelter Gewalt muss Schluss sein.
Schaut auf die Männer, die gekommen sind um euch zu helfen. Sie taten das freiwillig und sie werden auch jetzt vorbildlich sein und den Sues Schergen keine Gewalt antun. Sie kommen aus Frederik, einer Stadt mit wenig Frauen und manche von ihnen möchten bleiben, wenn ihr sie lasst.
Heute Abend werden wir ein Fest haben und die Befreiung von Westward Falls feiern, aber jetzt gibt es viel Arbeit. Bildet aus eurer Mitte einen vorläufigen Rat als Ansprechpartner für uns.“
Soweit der in groben Zügen vorbereitete Text, aber ich war noch nicht fertig:
„Lasst mich noch ein paar persönliche Worte sprechen. … Im Haupthaus liegt Jill, ihr kennt sie alle. Sie liegt da tot in ihrem Blut. Kaltblütig ermordet von Sue. Jill … die mir die Flucht ermöglichte und der ich mein Leben verdanke. Jill die meine Partnerin wurde. Jill die nicht lockerließ uns davon zu überzeugen, dass es eine gerechte Sache wäre, Westward Falls aus den Klauen der Verrückten zu reißen und die Erfüllung dieses Traumes nicht mehr erlebt hat. Ehrt diese Frau, betet für sie …“
Ich brach ab, mitten im Satz, wusste nicht mehr wie ich meinem Schmerz Ausdruck verleihen sollte. Schweigend hatten die Versammelten zugehört, einige weinten. Endlich fand ich die Fassung wieder: „… und nun ans Werk. Wir haben alle zu tun.“

Während die Frauen in der Folge beieinander standen und offenbar einen vorläufigen Rat bestimmten der die Bewohnerinnen der Siedlung vertreten sollte, fingen wir mit den Aufräumungsarbeiten an. Vor allem war das Tor notdürftig zu reparieren, denn von überall her strömten Donalds auf Westward Falls zu. Der Lärm der Schießereien hatte sie angelockt. Bis das Tor halbwegs stabil wiederhergestellt war, stellten wir den Truck quer vor die in der Befestigung entstandene Lücke. Die Donalds abzuknallen war kein größeres Problem, es tat mir aber leid um die Munition die wir dafür einsetzten mussten und um die Berge verfaulten Fleisches die hinterher irgendwie zu beseitigen waren.
Inzwischen hatte sich ein Rat gebildet. Ihre Anführerin wurde eine großgewachsene etwa 40jährige blonde Frau namens Betty, die wie ich fand, natürliche Autorität ausstrahlte, obwohl sie noch die abgerissene Kleidung einer ex-Strafgefangenen trug. Sie kam auf Marten und mich zu, während wir im Schatten des Dogde im Staub saßen und das weitere Vorgehen besprachen.

Ich schaute sie an. „Wie können wir helfen?“
„Ihr könnt die vier Jungs laufen lassen, das sind doch noch Kinder. Die wussten gar nicht was sie tun. Ihre Mütter werden ihnen schon klar machen, was sie da unterstützt haben.“ „Einverstanden – und sonst?“
„Lasst uns die Jurte ausräumen. Dieser ganze Pseudo-Religionsdreck muss da raus, Cerespoly ist tot, und heute Abend werden wir darin das neue Westward Falls feiern.“
„Gute Idee, …Marten…? Nimmst du dir ein paar Mann?“

Abends feierten wir dann und so wie es für mich aussah, wurden die ersten zarten Bande der Völkerfreundschaft bereits geknüpft, wie ich mit Befriedigung feststellte. Anderseits brachte mir diese Erkenntnis auch einen Stich ins Herz, denn ich musste an Jill denken.

Am nächsten Morgen verabschiedeten wir in einer möglichst würdigen Feier unsere drei Toten, Jill und die beiden Männer aus Frederik. Die toten Guards wurden im Anschluss ohne Zeremonie auf dem kleinen Gräberfeld verscharrt.

Nachmittags wurde dann über jede der verblieben Guards verhandelt. 14 Frauen, drei davon verletzt. Bei dreien waren sich alle Bewohnerinnen einig. Sie waren durch Erpressung in die Wachmannschaft eingegliedert worden und hatten sich auch nicht durch übertriebene Bösartigkeit hervorgetan. Sie durften daher als freie Frauen den Verhandlungsplatz verlassen. Unter den anderen war nur noch ein Leader. Alle anderen hatten wir erschossen oder sie waren mit Sue stiften gegangen. Für diese letzte verhasste Repräsentantin der vergangenen Schreckensherrschaft wurde die Todesstrafe gefordert. Niemand, nicht einmal Marten, wollte dagegen argumentieren und so bekamen die Frauen von Westward Falls zum Druckabbau ihr Blutopfer.
Wir schmissen die wild um sich tretende und schreiende Frau einfach von einem der Türme in eine kleine Gruppe vor dem Tor rumlungernder Donalds. „Fahr zur Hölle, Miststück“ rief ihr eine Ex-Gefangene, die wohl besonders unter ihr gelitten hatte, hinterher, als diese hart auf dem Boden zwischen den Untoten aufschlug. Wir hörten ihre gellenden Schreie als die Donalds anfingen aus der noch lebenden Frau Stücke herauszubeißen und zu –reißen.
Die anderen 11 wurden zur Zwangsarbeit verurteilt und zwar für den gleichlangen Zeitraum, den die Schreckensherrschaft in Westward Falls gedauert hatte, fast drei Jahre. Ihre erste Aufgabe würde darin bestehen, neben dem Haupttor eine Grube auszuheben und darin die Unmengen von Gammelfleisch zu verscharren den unsere Aktion vom Vortrag hervorgebracht hatte.

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