Sünde - Der Versuch einer Befreiung - Teil 1

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Sünde - Der Versuch einer Befreiung - Teil 1

Sünde - Der Versuch einer Befreiung - Teil 1

Michael Müller

Sein linkes Auge war verschwollen und alles damit Gesehene schien konturlos.
Mit dem Rechten erkannte Ulrich ober ihm, mit der Decke des Zimmers fugenlos abschließend, eine längliche, weiße Glasscheibe. Dreiviertel der Scheibe waren dunkel, der restliche Teil von einer dahinter befindlichen Glühbirne schwach erhellt. Das Licht dieser Deckenlampe ließ ihn nur wenige Einzelheiten seiner Umgebung erkennen.
Das Bett in dem er lag war mit frischem, weißem Baumwolltuch überzogen. Es erinnerte ihn zunächst sehr an das Bett, in dem seine Mutter die letzten Monate ihres Lebens verbracht hatte. Ihr Bett, erinnerte er sich weiter, stand in einem Pflegeheim. Seines wird wohl eher - es war eine pure Vermutung von ihm - seines also, wird wohl eher das im Zimmer eines Krankenhauses sein.
Der linke Ärmel seines ebenfalls weißen Nachthemdes war über die Armbeuge hochgeschoben. In dieser steckte, mit Heftpflaster fixiert, eine Nadel. Ein dünner Kunststoffschlauch verband die Nadel mit einem Beutel der, zur Hälfte mit klarer Flüssigkeit gefüllt, auf einem chromglänzendem Gestell neben seinem Bett, etwa 80cm seitlich über seinem Kopf hing. Offenbar war ein längerer, liegender Aufenthalt in diesem Bett für Ulrich vorgesehen worden. Auch aus Penis und Anus führten Kunststoffschläuche, waren aber, so hatte er den Eindruck, von unterschiedlichem Durchmesser Von seinen Füßen bis unterhalb des Brustkorbes war sein Körper unter einer grauen und wie er auf der nackten Haut seiner Beine spürte, rauen Decke verborgen. Als er mit seiner rechten, nadelfreien Hand über die Decke streichen wollte, merkte er, dass ihm dies nicht möglich war. Ein kalter, metallener Reif lag um sein Gelenk. Von diesem Reif führte eine dünne aber starke Kette unter die Matratze seines Bettes und war an dem Bettgestell aus Stahlrohr festgemacht. Der Versuch, mit seiner linke Hand, trotz der in der Armbeuge steckenden Nadel, die Decke zu erkunden, scheiterte ebenfalls. Nur wenige Zentimeter konnte er sie bewegen. Dann spürte er auch an diesem Handgelenk die metallene Kälte eines Armreifs. Mit seinem rechten, nicht verschwollenem Auge, seinem klar erkennendem, wollte er sich überzeugen, dass er mit beiden Händen an das Bett gefesselt war. Ein rasender Schmerz der das heben seines Kopfes einleitend begleitete und von der Mitte seines Gesichtes ausging, machte ihm klar, dass dies nicht der passende Zeitpunkt war seine Neugier zu befriedigen.
>Er hat mein Nasenbein gebrochen< dachte er und weiter >Zuerst hat er mich zusammengeschlagen und dann mit ihr, Helga, - meiner Braut! - gevögelt. Und diesem Luder, dass mich so getäuscht hat, hat es vermutlich auch noch gefallen! Diese Nutte hat sich mit dem brutalen Kerl verabredet! Ja, die beiden hatten sich verabredet! Sie und der Mann mit der Motorsäge! Es muss der Mann mit der Motorsäge sein! Nach dem sie sich neben meinem bewusstlos geschlagenem Körper ihrer Lust hingegeben hatten, tat ich ihnen leid und sie brachten mich ins Krankenhaus. Offenbar fürchten sie jetzt meine Rache! Warum sonst wurde ich an dieses Bett gefesselt?<
Seine Gedanken wurden von drei Menschen, die eben das Zimmer betraten, unterbrochen. Zwei Männer, einer ganz in weiß gekleidet - ein Arzt? - der andere mit dunkler Hose und grauem Sakko, und eine Frau. Sie trug einen weißen Arbeitskittel, vorne vom Halsausschnitt bis zum Saum mit einer Reihe Druckknöpfen zusammengehalten. Bis zum Saum?
Er erkannte mit seinem rechten Auge, dem klarsichtigem Auge, dass die Druckknöpfe vom Saum bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel offen waren.
>Mein Besucher< damit bezeichnete Ulrich in seinen Gedanken den Mann in Hose und Sakko, die Frau und der Mann in Weiß mussten Arzt und Krankenschwester sein, >hat euch wohl unterbrochen - beim vögeln! Es blieb euch nicht einmal genügend Zeit, eure Kleidung in Ordnung zu bringen!<
Dass in Spitälern Ärzte mit den Krankenschwestern vögeln, dies sogar in Operationssälen geschah, wusste er aus den Zeitschriften. Zeitschriften die er sich besorgte, nach dem seine Mutter endlich, nach vierundsiebzig Jahren auf dieser sündigen Erde, diese hatte verlassen dürfen. So lange schon poche sie an die Himmelstüre, hatte sie ihm einmal erzählt. Sie könne einfach nicht mehr länger ertragen, all die sündigen Menschen um sich herum zu haben. Jeden Abend bevor sie einschlief bete sie, der Herr möge sich doch ihrer erbarmen und sie aufnehmen in sein Reich.
An jenem Abend hatte er geweint.
Neben dem Bett seiner Mutter kniend flehte er: "Bitte, bleib noch bei mir. Ich brauche dich noch. Verlasse mich nicht." Vierzig Jahre habe sie für ihn, Ulrich, gesorgt und ihn beschützt, gab sie ihm zur Antwort. Jetzt sei er alt genug um für sich selbst zu sorgen. Und auch alt genug eine brave, reine Frau zu heiraten.
"Mehr als zehn Minuten bewillige ich ihnen heute nicht," sagte der Arzt eben zu Ulrichs "Besucher", "Morgen können sie sicher schon eine längere Vernehmung durchführen. Der Patient bekam starke schmerzstillende Mittel und wird sicher noch keine klare Aussage machen können," damit reichte er der Krankenschwester ein Clipbord, das er, während er sprach, gehalten und angesehen hatte.
"Ich möchte anschließend noch einmal kurz mit der Frau sprechen. Ist dies möglich?" fragte der "Besucher" den Arzt.
"Ich dacht ihre Aussage haben sie bereits? Nun, Frau Helga Schneider steht unter schwerem Schock, aber wenn sie's wirklich kurz machen, habe ich nichts dagegen. Schwester Böck wird sie zu ihr bringen." Arzt und Schwester verließen den Raum.
"Ich bin Kriminalinspektor Nellinger und möchte ihre Schilderung des Vorfalls von heute ca. 15:00 Uhr hören, der sich im Steininger Wald, ungefähr 150m von einer Holzsammelstelle entfernt zutrug,."
>Helga auch im Spital! Hat dieser Unhold auch sie verletzt? War sie am Ende gar nicht mit diesem Menschen verabredet? Unschuldiges Opfer, so wie ich?< dachte Ulrich.
"Ich nehme ihr Schweigen als Aussageverweigerung zur Kenntnis," sprach der Kriminalinspektor nach einer langen Pause wieder. "Es wir ihnen aber nichts nützen. Ich habe die Aussage eines Herrn Othmar Böck, Landwirt, und der Frau Helga Schneider. Beide Aussagen belasten sie schwer. Zudem werden auch in einigen weiteren Fällen Ermittlungen gegen sie geführt. Sollten sie zu einem späteren Zeitpunkt eine Aussage, ein Geständnis ablegen wollen, informieren sie die Krankenschwester. Sie wird ihren Wunsch an meine Dienststelle weiterleiten."
Ohne Gruß ging der Mann.
>Sie war also doch verabredet! Gemeinsam haben die beiden auch noch darüber gelogen, was im Wald geschehen ist! Und ich wollte diese Nutte heiraten! Oh Mutter, warum hast du mich nicht beschützt?!<
Ulrich beschloss auch weiterhin zu Schweigen.
Erst dem Richter, im vollen Gerichtssaal, wird er seine ganze Geschichte erzählen! Vom Anfang an! Ab dem Zeitpunkt mit seiner Geschichte beginnen, der ihm zum ersten Mal mit der Sünde konfrontierte. Seinen Kampf um seine Reinheit, seine Kampf um eine Frau wieder auf den rechten Weg zu bringen, würde er dem Richter und allen Menschen im Gerichtssaal schildern. Jedes Detail! Er war sich darüber völlig im Klaren, nicht das geringste Detail dürfe er verschweigen. Genauso exakt wird er alles schildern, wie damals bei seiner Beichte!
Und wenn er mit seinen Ausführungen zu Ende gekommen war, war es sehr gut vorstellbar, dass der Richter sich Tränen aus den Augen wischen würde.
"Wo befindet sich dieser Landwirt Othmar Böck? Dieser Bauer! Bringen sie mir diesen Mann!" wird der Richter verlangen und Polizisten werden diesen Landwirt, diesen Bauern, in den Saal zerren, vor die Bank des Richters. Und dann wird der Richter lange in die Augen dieses Bauern Othmar Böck sehen und ihn leise Fragen: "Ist ihnen die Schwere ihres Verbrechens überhaupt bewusst? Wissen sie überhaupt was sie angerichtet haben? Sie haben verhindert, dass diese beiden Menschen," dabei würde der Richter auf Ulrich und Helga zeigen, "ein Ehepaar wurden!" Ja, dies alles würde geschehen, wenn er seine Geschichte zu Ende erzählt haben würde.
Nun musste er aber seine Geschichte in eine dem Gericht, seinem Richter, präsentierbare Form bringen. Die passenden Worte finden. Alles ganz genau, bis ins kleinste Detail schildern. So genau, wie er es damals, vor mehr als dreißig Jahren dem Priester im Beichtstuhl schilderte. Ja, damit wolle er seine Geschichte beginnen. Damit, wie vor mehr als dreißig Jahren zum ersten Male die Sünde aus ihm floss!

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