Sünde - Der Versuch einer Befreiung - Teil 4

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Sünde - Der Versuch einer Befreiung - Teil 4

Sünde - Der Versuch einer Befreiung - Teil 4

Michael Müller

Seinen fünfunddreißigsten Geburtstag wird Ulrich nie vergessen. Dieser Tag war ein Samstag und somit arbeitsfrei. Es war aber auch der erste und blieb der einzige, an dem Ulrich sein Frühstück von seiner Mutter ans Bett
serviert bekam.
An diesem Morgen war Mutter sehr gesprächig. 35 Jahre, so fand sie, sind für einen Mann jenes Alter in dem eine Eheschließung sowohl aufgrund der Lebenserfahrung als auch in Anbetracht der finanziellen Situation und Sicherheit im Berufsleben, in dessen Vorstellung als Möglichkeit eindringen sollte. Er, Ulrich, erfülle alle Kriterien geradezu ideal und es würde ihm sicher nicht schwer Fallen eine ihm entsprechende Braut zu finden. Auch die Vorstellung, auf das Schaukeln von Enkelkindern auf ihren Knien verzichten zu müssen stimme sie immer traurig. Kurz überlegte Ulrich, seiner Mutter über all seine gescheiterten Beziehungen in der Vergangenheit zu berichten. Er unterließ es aber. Sein Verlangen nach Betrachten und Berühren von Frauen, im Besonderen bestimmter Körperteile, verschwieg er ebenso.
Statt dessen sagte er: "Ich finde du und ich sind recht glücklich und führen ein angenehmes, ruhiges Leben. Eine Braut zu finden hat doch wohl noch Zeit!"
Ja, sicher, stimmte ihm Mutter zu. Sie findet aber, er könne ja damit beginnen und es ist nicht zum Nachteil der Ehe wenn seine Braut die Möglichkeit hätte noch einiges von ihr, seiener Mutter, zu lernen. Ulrich versprach sein Projekt "Ich finde eine Braut" zu starten.
Mutter lächelte überglücklich. Der Rest des Tages und auch der folgende Sonntag waren Tage der Ruhe und des Glückes für die Beiden. Die folgenden Wochen waren anstrengend für Ulrich.
In den folgenden Wochen beobachtete er weibliche Personen, Passantinnen und Cafehausgäste, Verkäuferinnen in Geschäften die zu betreten er hin und wieder Grund hatte, um zu entscheiden, welche davon als mögliche Braut von ihm in die engere Wahl gezogen werde könne. Oft glaubte er, diese oder jene sei eine in Frage Kommende. Jedoch nach einigen Minuten seines Beobachtens einer alleine an einem Tisch sitzenden Frau, tauchte ihr Mann auf. Rasch waren die beiden dann in ein Gespräch vertieft und hatten Körperkontakt, den er, Ulrich, als in der Öffentlichkeit unangebracht empfand.
Erniedrigt wurde Ulrich neuerlich an einem ungewöhnlich mildem Novembertag. An dem zweiten Mittwoch diese Monats, an einem Tag voll Sonnenschein und nicht dem geringsten Hinweis auf die kommende, sich anbahnende Erniedrigung. An diesem Mittwoch entschloss sich Ulrich früher als für diesen Tag vorgesehen seine Arbeit im Büro zu beenden. Seinem Wunsch wurde vom Abteilungsleiter widerspruchslos entsprochen, galt es doch, in der Vergangenheit geleistete Überstunden Ulrichs noch vor Jahresende zu reduzieren.
An diesem Mittwoch also verließ Ulrich das Gebäude des ihn entlohnenden Unternehmens um 14:05 Uhr. Öffentliche Verkehrsmittel - sein Auto verwendete er nie für Fahrten zum Arbeitsplatz - brachten Ulrich in die Nähe eines mehrere Hektar großen Areals, dass in vergangenen Zeiten Teil eines Schlossparkes war. Nach Zusammenbruch der Monarchie wurde dieses Areal der Bevölkerung zum Zwecke der Erholungsfindung überlassen. Kleine Wäldchen waren unterbrochen durch großflächige Wiesen an deren Rändern nach süd-west ausgerichtet Bänke, aus dicken Holzbalken gezimmert, standen. Das gesamte Gelände war von einer Steinmauer, knappe zwei Meter hoch, umgeben und von mehreren schmiedeisernen Toren, täglich von 8:00 bis 17:30 Uhr geöffnet stand an den Tafeln rechts dieser Pforten, durchbrochen.
Gegen 15:00 Uhr passierte Ulrich eines dieser Tore noch voller guter Dinge und hoffend auf eine erholsame Rast auf einer der Bänke in der warmen Herbstsonne. Die Sonne, so hatte er gestern festgestellt, würde noch bis etwa 16:30 Uhr ihre wärmenden Strahlen senden. Bis etwa 16:00 Uhr verweilte Ulrich auf einer dieser Bänke. Leichter Wind setzte dann ein und blies spürbar kältere Luft über das Land und auch, natürlich, über Ulrich.
Er beschloss, den vor ihn in weiten Serpentinen hangabwärts führenden Kiesweg einzuschlagen. Dieser, Ulrich kannte diese Gelände von vielen Spaziergängen davor gut, führt nach rund zwanzig Minuten durch eines der Tore auf eine kaum befahrene Strasse. Dieser Strasse, sie verlief entlang der Mauer, folgend könnte er in weiteren acht bis zehn Minuten die Haltestelle einer Buslinie erreichen. Mit Bus und U-Bahn wäre er dann gegen 18:00 Uhr oder nur knapp danach, im Zentrum der Stadt.
Er machte sich auf den Weg. Offenbar den gleichen Weg wie Ulrich gehend, bog ein Frau von einem der Seitenwege auf den Kiesweg ab. Sie ging an die fünfzehn Meter vor ihm. Er ging rascher um mit ihr aufzuschließen. Ihre Silhouette hob sich klar gegen den hellen Kies ab. Eine kurze, schwarze Lederjacke reichte bis zum Bund ihrer dunkelblauen Hose. Ihr Haar war schwarz und kurz geschnitten. Ulrich hatte vor sie anzusprechen. Sah die Möglichkeit mit ihr gemeinsam in die Stadt zu fahren, den Abend zu verbringen.
Sie musste seine Schritte im Kies gehört haben und begann rascher zu gehen. Einmal wandte sie Ihren Kopf. Zu kurz für Ulrich um ihr Gesicht zu erkennen. Nun lief sie fast. Auch Ulrich begann zu laufen.
"Hallo! Guten Abend!" rief er ihr zu.
Sie reagierte nicht. Lief schneller.
>Warum ignoriert sie mich?< dachte er
Ulrich sah sich um. Sie waren alleine. Er fürchtete, Spaziergänger würde durch seine Rufe auf sie beide aufmerksam. Niemand war zu sehen. Gut! Nur nicht wieder so angesehen werden wie damals als ihn Anna anschrie. Damals vor drei, nein vier Jahren, als Anna ihre Beziehung mit ihm beendete. Vor der Haustüre, auf der Strasse!
"Bleiben sie doch stehen!" rief er, leicht atemlos.
Mit einem Ruck blieb sie stehen, wandte sich rasch um und schrie: "Bleiben sie stehen! Bleiben sie sofort stehen!"
Er gehorchte. Nur wenige Meter lagen zwischen ihnen.
"Bleiben sie ruhig stehen. Ich werde weiter gehen. Und sie bleiben stehen. Ich will nicht, dass sie mir folgen." Sie sprach sehr aufgeregt.
"Gehen sie zum Bus?"
Sie gab keine Antwort.
"Ich gehe auch zum Bus und dachte wir können gemeinsam gehen," sagte Ulrich.
"Ich gehe alleine!"
"Wir könnten gemeinsam zum Bus gehen und ....."
Sie unterbrach ihn: "Ich wünsche alleine zu gehen und bin an einer Begleitung nicht interessiert. Ich gehe jetzt weiter und sie bleiben stehen. Fünf Minuten! Und dann gehen sie wohin sie wollen nur nicht mir nach! Alles Klar?"
Sie begann rückwärts zu gehen, ihren Blick starr auf seine Augen geheftet. Verachtung las er in diesen Augen. Aber auch Angst. Nach wenigen Schritten drehte sie sich um und lief weiter. Er rann los, holte sie rasch ein. Sie hatten nun eines der kleinen Wäldchen erreicht. Er fasst sie an der Schulter, sie tauchte unter seiner Hand weg und schrie.
Sie wollte an ihm vorbei, zurück ins freie Gelände. Und sie schrie!
>Sie soll still sein< dachte er, >stillsein und mich anhören.<
Er bekam sie um ihre Hüfte zu fassen. Zog sie weiter unter die Bäume. Mit einer Hand versuchte er ihren Mund zu verschließen. Beinahe biss sie in seine Hand. Im letzten Augenblick konnte er dies verhindern. Er zerrte sie durch das Gebüsch. Seine Hände waren fest um ihren Hals geschlossen, seine Handrücken von ihren Fingernägel zerkratzt, gegen sein Gesicht schlugen Zweige des Gestrüpps.
"Sei ruhig, sei ruhig," bettelte er.
Er zog sie weiter. Sie wurde ruhiger, ließ sich nun von ihm ziehen. Hatte aufgehört sich zu widersetzen. Nach einigen Metern, sie waren verborgen vor den Blicken neugieriger Beobachter, legte er den Körper der Frau auf eine moosige Stelle des Waldbodens.
Er setzte sich neben sie und brauchte einige Minuten um wieder ruhig atmen und sprechen zu können, konnte nun endlich ihr Gesicht betrachten. Sie hatte ein hübsches Gesicht. Hohe Stirn mit stark geschwungenen Augenbrauen über dunklen Augen die jetzt vermieden ihn anzusehen. Ihre Wangenknochen waren stark ausgeprägt, schmale, kleine Nase, sanft geschwungene Lippen, zwischen
denen Ihre Zunge zu sehen war.
"Ich heiße Ulrich," begann er. In wenigen Worten stellte er sich ihr weiter vor.
"Wir müssen jetzt aber gehen. In einigen Minuten werden die Tore versperrt. Lassen sie uns gemeinsam in die Stadt fahren. Ich lade sie auf eine Tasse Kaffee ein," schloss er seine Rede.
Die Frau reagierte nicht, antwortete nicht. Starr war ihr Blick in den Himmel gerichtet.
Ulrich fasste sie an der Hand, forderte sie auf: "Stehen sie auf, wir müssen gehen."
Ihre Hand fühlte sich schlaff an, ihre Finger schlossen sich nicht um die seinen. Sie blieb stumm, starrte nur in die Zweige des Gestrüppes über ihr.
"Wir müssen los," wiederholte er.
Keine Reaktion.
"Na schön, wenn sie lieber hier liegen bleiben wollen, auch gut. Ich gehe jetzt."
Er stand auf.
"Bitte, kommen sie doch mit," versuchte er es nochmals. Stumm und regungslos blieb sie liegen.
"Ach so!" schrie er sie nun an: "ich verstehe! Sie glauben mich ignorieren zu können. Sie denken ich bin ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig! Glauben vielleicht ich kann eine Frau nicht versorgen?! Ein gutes, ein schönes Heim könnte ich ihnen bieten! Oder denken sie, es wäre nicht gut genug für sie?! Nicht einmal ihren Namen haben sie mir gesagt! Glauben wohl ich bin eine Antwort, ihre Gesellschaft nicht wert! Nicht wert angesehen zu werden!" Er wurde immer Aufgeregter. Die Frau blieb stumm. Er ging. Sah sich nicht mehr nach ihr um. Das Tor stand noch offen als er es
erreichte. An der Bushaltstelle ging er vorbei. Durch ihr Schweigen hatte sie ihn verletzt, erniedrigt. Er ging weiter. Ging und ging bis er gegen 21:00 zu Hause ankam.
Seine Mutter war schockiert als sie ihn sah.
"Was ist geschehen? Du siehst ja schrecklich aus! Zerkratzt und schmutzig!"
"Ich wurde überfallen," sagte er "von zwei Männern."
"Warst du schon bei der Polizei?"
"Nein, ich habe die Kerle vertrieben. Das reicht."
"Wenn du meinst. Die Wunden gehören aber gesäubert."
"Etwas Jod reicht."
"Mein tapferer Junge," und sie küsste Ulrich auf die Stirn.
Seine Träume in der Nacht waren schrecklich. Das Gesicht der Frau erschien immer wieder, ihr starrer Blick auf ihn gerichtet. Am nächsten Morgen rief er den Abteilungsleiter an und meldete sich krank. Zwei Wochen blieb Ulrich seiner Arbeit fern. In diesen Wochen verheilte sein zerkratztes Gesicht und Handrücken. Seine Erinnerung an das Geschehene
verblasste. Auch sein Schlaf wurde wieder traumlos.
Eine weitere Woche verging ehe er seine abendlichen Spaziergänge wieder aufnahm. Viele weitere, ehe er sein Projekt "Ich suche eine Braut" von Neuem begann.
Der erste seiner Versuche eine Frau zu finden, die bereit wäre seine Braut zu werden, fand in seinem Stammcafe mit Nichtraucherzimmer statt und scheiterte innerhalb weniger Minuten. Mehrmals schon war Ulrich eine Frau aufgefallen die immer alleine kam, rund eine Stunde mit der Lektüre von Zeitungen beschäftigt war, eine Schale Kaffee trank und alleine wieder das Lokal verließ. An einem Abend, die Erniedrigung die er durch die Frau im Schlosspark erfahren hatte und seine daraus resultierenden Verletzungen waren überwunden, verheilt, ging er, sich für eine Zeitung die sie eben zur Seite gelegt zu interessieren vorgebend, an den Tisch der unbekannten Einsamen.
"Darf ich mir diese Zeitung nehmen?" fragte er.
"Ja."
"Ich heiße Ulrich," stellte er sich vor.
Die Frau blickte auf.
"Lernen sie damit zu leben," antwortete sie kühl.
Ulrich war durch ihre abweisende Antwort verunsichert, trotzdem wagte er zu fragen:
"Wie heißen sie?"
Er bekam keine Antwort, ja sie unterbrach nicht einmal ihr lesen in der Zeitung.
Ulrich bemerkte, dass einer der Kellner auf den Tisch zu kam.
"Darf ich mich zu ihnen setzen?" frug Ulrich schnell.
"Haben sie einen Wunsch?" hörte er den Kellner neben sich fragen.
"Nein, danke Walter," sagte die Frau zum Kellner "und dieser Herr" sie zeigte dabei auf Ulrich, "dieser Herr Ulrich wollte sich nur eine Zeitung von meinem Tisch holen," nun sah sie Ulrich an und wiederholte: "Sie wollten sich nur eine Zeitung holen, sonst nichts."
Ulrich nickte bejahend, nahm die Zeitung, bedankte sich und ging an seinen Tisch zurück.
Ohne auf den Inhalt zu achten, auch nur ein Wort der Überschriften zu lesen, begann er darin zu blättern.
>Alle Gäste starren mich an!< dacht er dabei >Mich starren sie an und diese Nutte, die sicher mit dem Kellner vögelt, die beachtet niemand, die bleibt von Blicken verschont! Sie muss mit dem Kellner vögeln! Warum hätte der sonst unser Kennenlernen verhindert.<
Ulrichs Hände zitterten. Wut über diese Erniedrigung stieg in im hoch, wurde immer stärker. Er zahlte seinen Kaffee und ging heim.
In der Nacht konnte er kaum zur Ruhe kommen. Warum, so frug er, war es ihm nicht möglich eine Frau zu finden? Wieso waren alle Frauen die er bisher traf, nicht bereit ihr Leben mit ihm zu teilen? Was mache er falsch? Hin und wieder weinte er in dieser Nacht sogar. Alle dieser Episode folgenden Versuche Ulrichs, Freundschaft mit einer Frau zu schließen blieben erfolglos. Um seine Mutter zufrieden zu stellen, erfand er eine Frau, um deren Hand er sehr bald, vielleicht noch vor Weihnachten!, anhalten wolle. Ulrichs Mutter war überglücklich.
Kurz vor Weihnachten, das drängen auf einen Verlobungstermin wurde immer intensiver, erfand er die Geschichte, diese Frau, seine zukünftige Braut, sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.
Ulrichs Mutter war tief bestürzt.
"Arme Frau und erst ihre Eltern, die Armen, so etwas Schreckliches! Und noch dazu so knapp vor Weihnachten!" heulte sie. Zwei Stunden später war Mutter aber doch wieder froh, dass Ulrich nicht schon mit der Toten verlobt war. Die Eltern der Braut hätten zu guter Letzt Ulrich auffordern können, sich als Bräutigam an den Begräbniskosten zu beteiligen.
Weihnachten verlief harmonisch, Silvester ruhig. In der Silvesternacht stießen Mutter und Sohn punkt Mitternacht mit einem Glas Sekt an, lauschten den Klängen des Donauwalzers und gingen danach zu Bett. Der Neujahrstag fand Mutter und Sohn via Fernsehapparat am Neujahrskonzert teilnehmend, einträchtig Seite an Seite sitzend.
Das neue Jahr und auch das diesem nachfolgende führten Ulrich nicht zum erfolgreichen Abschluss seiner Brautfindung. Die Jahre waren durchsetzt mit gescheiterten Versuchen und der Beendigung mehrer Beziehungen. Als Beziehungen bezeichnete Ulrich jene Treffen die mindestens zweimal mit der selben Frau stattfanden. Der Faschingsdienstag jenes Jahres, in dem Ulrich seinen achtunddreißigsten Geburtstag feiern würde, gestaltete sich aber unterschiedlich und war der Beginn einer Reihe neuer Erfahrungen.

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