Völlig ausgepumpt kam ich auf dem Campingplatz an.
Ich schimpfte mit mir, schalt mich einen Idioten: „Wie kannst du dir am ersten Tag so eine Tour vornehmen?“
Mir zitterten die Knie, als ich von meinem Rad stieg und es bis zur Anmeldung schob. Satte 70 km hatte ich geschafft und das mit dem schwer beladenen Rad. Der Platzwart zeigte mir die Richtung, wo ich mein Zelt aufschlagen konnte, nachdem ich mich angemeldet und die Gebühren bezahlt hatte.
Bis zum See, wo sich auch der Zeltplatz für Radwanderer befand, schob ich mein Rad. Mein Hintern brannte wie Feuer und das war nicht verwunderlich. Ich fuhr zwar viel Rad, aber die Strecke heute, hatte mir alles abverlangt. Hinzu kam ja noch die ca. 30 kg meiner Zeltausrüstung und sonstiges Gepäck was man so zum Campen brauchte.
Außerdem war es unglaublich heiß heute.
Die Wiese war schon gut besucht und natürlich waren die wenigen Plätze unter den Bäumen schon alle belegt. Ein Blick auf die Sonne und den Schatten des höchsten Baumes, einer uralten Eiche, zeigte mir wo ich mein Zelt aufschlagen sollte. Nach dem Lauf der Sonne, würde mein Zelt etwa in eineinhalb Stunden bis zum Untergang im Schatten liegen und ich hatte wenigstens in der Nacht etwas Kühle zu erwarten.
Mein Zelt hatte ich schnell aufgebaut und meine Sachen verstaut. Wenig später hatte ich meine Badehose an und trollte mich zum Wasser. Ich brauchte dringend eine Abkühlung!
Deutlich spürte ich die Blicke, die auf mich gerichtet waren. Ok, das war normal! Jeder Neuankömmling wurde erst mal begutachtet. Nicht das sich ein tätowierter Krawallmacher in ihrer Nähe nieder ließ.
Aber ich schien als Normalo willkommen zu sein.
So aufgeheizt, ging ich natürlich langsam ins Wasser, machte genau das, was mein Vater mir immer gepredigt hatte.
Das kühle Wasser war herrlich, ich kraulte ein Stück auf den See hinaus und zog dann brustschwimmend ein paar Bahnen, bis ich wieder zurück zum Zelt ging. Nachdem ich mich abgetrocknet und mir meine Bermudashorts angezogen hatte, setzte ich mich auf meine Luftmatratze, die ich mit zwei Haken zu einem bequemen Sessel umfunktionieren konnte.
Erst jetzt hatte ich Gelegenheit mir meine Zeltnachbarn genauer anzuschauen. Die meisten waren wohl etwas jünger als ich, wobei ich mit meinen zwanzig Jahren ja auch noch zu den jungen gehörte. Genüsslich trank ich die, inzwischen warme, Cola, die ich mir von zuhause mitgenommen hatte. Später würde ich mir noch etwas zu Essen im SB-Laden holen und eventuell ein, zwei Bier.
Zu meiner Rechten, dort wo die Bäume den Rasen begrenzten, standen die meisten Zelte. Viele Zwei-Mann-Zelte, aber auch ein paar große Steilwandzelte, wo Familien mit Kindern wohnten.
Ich konnte mich noch gut an die Zeit mit meinem Vater erinnern. Er hat mit der Familie auch immer gerne gezeltet. Von ihm habe ich wohl dieses unbeschwerte Gefühl geerbt. Leider ist er viel zu früh von uns gegangen. Ich war gerade 13 als er auf der Arbeit einfach umgefallen war und nicht wieder aufgewacht ist. Angeblich hatte er giftige Gase eingeatmet. Zum Glück bezahlte die Versicherung der Firma, sodass unsere Mutter ganz gut zurechtgekommen ist.
Trotzdem fehlte mir Vater sehr, denn er war für mich Vorbild und Held zugleich gewesen.
Meine ältere Schwester Lisa, war schon aus dem Haus und unsere Mutter hatte seit ein paar Monaten einen neuen Freund. Laslo war ganz in Ordnung, nur hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass er unsere Mutter ausnutzte. Aber Warnungen schlug meine Mutter in den Wind. Es wurde Zeit für mich, aus dem Haus zu kommen!
Ich schaute dem Treiben in meiner Nachbarschaft zu und entdeckte ein junges Mädchen, dass vor einem der Steilwandzelte saß und irgendetwas auf dem Tisch tat.
Aus der Ferne konnte ich nicht erkennen was sie machte, deshalb beobachtete ich sie unauffällig.
Sie war aus gesprochen hübsch. Sie hatte einen schwarzen Bikini an, der ihre jugendlichen Formen betonte und schwarze, kurze Haare. Ich schätzte sie etwa in meinem Alter, vielleicht ein Jahr jünger.
Aber was sie dort am Tisch trieb war mir ein Rätzel?
Sie griff ab und zu in eine Schale, die neben ihr stand und schwenkte die Faust über den Tisch und nahm nach einiger Zeit erneut etwas aus der Schale.
Plötzlich schaute sie zu mir rüber!
Ich fühlte mich ertappt und tat so, als wenn ich zufällig in ihre Richtung geblickt hatte. Meine Uhr sagte mir, dass ich noch etwas zu Essen brauchte. Deshalb erhob ich mich und machte mich auf den Weg.
Als ich mit meinem gefüllten Rucksack zurückkam, saß sie immer noch am Tisch und wischte mit dem Finger auf etwas herum, was ich von meinem Standpunkt aus, nicht erkennen konnte.
Ich hatte mir eine kleine Dose Ravioli mitgebracht, das typische Camper Essen, das ich mir jetzt auf dem kleinen Gaskocher warm machte. Dabei hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden und als ich unversehens zu ihr rüber schaute, sah ich direkt in ihre Augen. Auch wenn es zu weit weg war, so meinte ich, dass ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht huschte.
Meine Ravioli waren heiß und ich schüttete sie auf den mitgebrachten Plastikteller, setzte mich vorsichtig auf meinen Luftmatratzensessel und begann mit der Gabel einzelne Ravioli aufzupicken.
Gerade wollte ich die Gabel erneut zum Mund führen, als unsere Blicke sich begegneten. Ich stoppte mit der Bewegung, sah sie mutig an und zuckte mit den Schultern.
Ich deutete ihr damit an, dass Camping nun Mal so ist!
Jetzt konnte ich ihr Lachen deutlich erkennen.
Nachdem ich mein Geschirr am Waschhaus gesäubert hatte, spazierte ich langsam an den Zelten vorbei und blieb bei ihr stehen. Jetzt erst sah ich was sie die ganze Zeit gemacht hatte, sie malte mit Sand.
Ich hatte sowas zwar schon mal im Fernsehen gesehen, aber noch nie jemanden getroffen, der so etwas beherrschte!
„Wow!“, entfuhr es mir. „Sowas kannst du?“
Wieder lächelte sie und es wirkte auf mich so zuckersüß, dass ich sie fragte, ob ich mal zuschauen dürfte. Sie nickte nur und zerstörte das Bild, was sie gerade gemacht hatte.
Ich wollte gerade aufbegehren, als sie etwas Neues beginnt!
Sie schaute mich an, legte dabei ihren Kopf etwas schief und nahm schwarzen Sand aus der Schale neben sich, schaute erneut zu mir rauf und streute den Sand über eine weiße Kunststoffplatte. Mit den Fingern, die so schnell hin und her wischten, entstanden die Konturen eines Gesichts. Dabei sprach sie kein Wort, schaute mich aber immer noch hin und wieder an.
Ich war etwas hinter sie getreten und blickte ihr über die Schulter. Dabei wurde ich etwas von ihren zarten Brustansätzen abgelenkt, die von ihrem Bikinioberteil nur knapp bedeckt waren. Doch als ich wieder auf das Bild sah erkannte ich, dass es mein Portrait werden sollte, was sie dort gestaltete. Immer mehr Ähnlichkeiten kamen hervor und als sie mir dann plötzlich die Hand an die Wange legte und meinen Kopf etwas zur Seite drehte, wusste ich was sie wollte, sie wollte mein Profil!
Etwas eigenartig fand ich, dass sie die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte.
Ich fragte sie: „Wie heißt du?“ Aber ich bekam keine Antwort.
Mit flinken Fingern wischte sie hier etwas Sand beiseite oder fügte anders farbigen Sand hinzu. Das alles ging so schnell, dass ich aus dem Staunen nicht rauskam.
Als sie mich wieder betrachtete, fragte ich erneut: „Verrätst du mir deinen Namen?“
Ihr Gesicht wurde auf einmal abwehrend, so als wenn eine Wolke die Sonne verdeckte. Sie wandte sich ab, verteilte eine Hand voll schwarzen Sand über mein Portrait und mit dem Fingernagel schrieb sie: „Svenja“
Dann wischte sie über das Bild und vernichtete alles, was sie bisher gemacht hatte, erhob sich und warf mir einen schmerzverzerrten Blick zu und verschwand im Zelt.
Ich rief noch hinter ihr her: „Svenja, was ist? Was habe ich falsch gemacht?“
„Du hast nichts falsch gemacht!“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir.
Etwas erschrocken drehte ich mich um, weil ich niemanden hab kommen hören. Vor mir stand ein etwas älteres Paar und die Frau hatte große Ähnlichkeit mit Svenja, anscheinen ihre Mutter.
„Svenja ist von Geburt an Gehörlos und reagiert immer so, wenn Menschen, die ihr sympathisch sind, hinter ihr Handicap kommen! Viele reagieren dann abwehrend, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen!“
„Aber sie ist mir doch auch sehr sympathisch, sie ist so ein süßes Mädel und hat ein unglaubliches Talent!“ Dabei deutete ich auf ihre Sandutensilien.
„Sie wird schon wieder aus ihrem Schneckenhaus herauskommen, du musst nur Geduld haben!“
Auf einmal schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: „Hat Svenja ein Handy?“
„Ja hat sie!“ Ihre Mutter schien von der Idee begeistert zu sein. „Ich glaube das ist eine tolle Idee! Schreib ihr, dass du sie magst und du heute Abend am Strand auf sie warten würdest, sie wird sicher kommen! Aber du musst Geduld haben.“ Svenjas Mutter lächelte herzlich und diktierte mir Svenjas Handynummer.
Bevor ich mich abwandte, sagte ihre Mutter noch: „Tu ihr bitte nicht weh, sie ist ein sehr zartes Pflänzchen!“
Ich versprach es und ging zu meinem Zelt. Es dauerte etwas, bis ich einen geeigneten Text zusammengebastelt hatte. Ich schrieb:
„Liebe Svenja,
es tut mir leid, dass ich dich so verschreckt habe,
das wollte ich nicht!
Ich finde dich so süß! Würde dich gerne besser kennen lernen.
Vielleicht kannst du mir helfen dich zu verstehen?
Wie wäre es, wenn du mir die Gebärdensprache beibringst?
Würdest du das für mich machen?
Ich werde heute Abend am Strand auf dich warten,
Vielleicht kannst du mir ja verzeihen?“
Malte
Ich las den Text wohl noch zwanzig Mal durch, bevor ich ihn abschickte, doch dann war er raus und ich sah, dass er angekommen war und wenig später war er auch gelesen worden.
Aber ich bekam keine Antwort.
Die Sonne näherte sich dem Horizont, als ich mich auf den Weg zum Strand machte. Ich ging quer über den Rasen, zwischen den Zelten hindurch. Vermied es aber in die Nähe von Svenjas Zelt zu kommen. Zusehen war auch niemand, was ja eventuell daraufhin deuten konnte, dass die Familie im Vorzelt beim Abendessen war.
Der kleine Strand war verlassen, nur ein einsamer Schwimmer zog seine Bahnen in Ufernähe.
Ich setzte mich auf die einzige Bank und genoss den Sonnenuntergang, als plötzlich mein Handy vibrierte.
Auf dem Display leuchtete mir Svenjas Namen entgegen: „Nicht erschrecken, ich stehe hinter dir!“
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mich erhob und mich umdrehte.
Mir stockte etwas der Atem, als ich sie sah. Sie trug schwarze Shorts und ein rotes T-Shirt.
Ich ging um die Bank herum und blieb ein zwei Schritte vor ihr stehen. Ich schaute sie an und sagte: „Du bist wunderschön!“ Dabei versuchte ich meine Worte deutlich zu artikulieren. „Danke, dass du gekommen bist!“, fügte ich noch hinzu und reichte ihr die Hand.
Sie reichte mir ihre und ein Strom Wärme sprang zu mir über: „Danke!“, sagte sie mit einem eigenartigen Tonfall, der wohl typisch für Gehörlose war, weil sie ihre eigene Stimme nicht hörten.
Ich deutete auf die Bank und sagte: „Wollen wir uns setzen?“ Svenja nickte und setzte sich. Als ich neben ihr Platz genommen hatte, drehte ich mich zu ihr und sah sie an, doch bevor ich etwas sagen konnte, meinte sie: „Du kannst ganz normal sprechen ich muss dich nur dabei ansehen, dann verstehe ich was du sagst!“
Ich schaute in ihr Gesicht und entdeckte in ihren dunklen Augen einen Glanz, den ich noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Es faszinierte mich wie sie mich anschaute, unwillkürlich verspürte ich den Drang sie berühren zu müssen. Sie hatte eine ihrer Hände auf der Bank abgelegt und ohne darüber nachzudenken, legte ich meine Hand auf ihre.
Svenjas Schweigen
schreibt franzl