Adrian bog an Christmas Eve, Heiligabend, zwischen Nether Addlethorpe und Middle Fritham von der C 947 in einen unscheinbaren Nebenweg ab. Nach etwa einer und einer weiteren viertel Meile durch die ländliche Heckenlandschaft Yorkshires durchfuhr er ein offenstehendes imposantes geschmiedetes Tor, eingerahmt von zwei stattlichen Steinsäulen, um dann schnurgerade auf ein mächtiges auf einer kleinen Anhöhe stehendes Gebäude zuzuhalten: North Castlestone Manor!
Ihm bestens bekannt seit frühester Kindheit. Mindestens einmal im Jahr war er hier, zu Weihnachten. Diesmal erstmalig mit einem eigenen Auto, denn im Sommer war er 18 geworden. Er parkte seinen alten Mini in der langen Reihe der anderen Autos und sah auch den 5er BMW seiner Eltern. Die waren also auch schon hier und hatten seine 15jährige Schwester mitgebracht. Auch den Wagen seiner Großeltern entdeckte er. Die alten Herrschaften fuhren einen in die Jahre gekommenen Oldsmobile, einen Alero der letzten Serie die überhaupt gebaut worden war.
Es war eine uralte Tradition, dass sich weite Teile der Verwandtschaft an Weihnachten hier versammelten. Die Gastgeberin Eleonora Hesketh-Fortescue, LADY Hesketh-Fortescue, hatte geladen, wie immer. Alle nannten sie Grandma Eleonora. Er war ein Urenkel, aber auch alle anderen, auch die für die sie nur die Tante, Groß- oder Urgroßtante war, nannten sie so.
Zeitweise waren ihm die Veranstaltungen ziemlich auf die Nerven gegangen, als er so 12, 13 war, aber inzwischen fuhr er mit zunehmendem Interesse hin, denn Emma war auch da, eine Nachfahrin von Priscilla, der schon seit mehr als 10 Jahren verblichenen Schwester von Grandma Eleonora.
Emma war also eine Cousine dritten Grades, die sich von Jahr zu Jahr besser entwickelte und in den letzten beiden Jahren zunehmend vielversprechendere schwellende Formen unter ihren Pullis präsentiert hatte. Auf einem langen Spaziergang vor zwei Jahren hatte sie ihm für einen kleinen Gefallen sogar mal im Überschwang einen Kuss auf die Wange gedrückt. Letztes Jahr hingegen war sie ein bisschen zickig gewesen und er hatte wenig mit „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“ gesprochen. Das hatte ihn sehr verunsichert und er war gespannt wie sie sich dieses Jahr geben würde. Eigentlich war er aber sehr zuversichtlich, hatte sie ihm doch bereits Anfang Dezember ‚Christmas Greetings` zukommen lassen. Das hatte sie noch nie gemacht! Sie waren übrigens fast gleichaltrig. Sie war etwa zwei Monate nach ihm volljährig geworden.
Er strebte dem Haupteingang entgegen, wohl wissend was ihn hier erwarten würde. Über 50 Menschen kamen hier Jahr für Jahr zusammen und tatsächlich auch alle in diesem riesigen finsteren Kasten unter. Die Erwachsenen hatten in ausreichender Zahl Gästezimmer für sich und das junge Volk wurde, natürlich nach Männlein und Weiblein getrennt, in den wenigen weiteren Räumen zusammengezogen. Die meisten mussten mit Iso-Matte und Schlafsack oder Feldbett vorlieb nehmen.
Die Familien Eleonoras und der dahingeschiedene Lady Priscilla Molesworth, die den ebenfalls längst verblichenen Lord Molesworth-Houghton auf Thrumpton Castle geehelicht hatte, gehörten seit etwa 200 Jahren zum englischen „Gentry“, zum niederen Adel. In dieser Zeit, als die Familien in den Landadelsstand aufstiegen, dem Viktorianischen Zeitalter, waren auch die Weihnachtsbräuche entstanden die bei den Molesworth und Hesketh-Fortescue so hochgehalten wurden.
Als Adrian die große Eingangshalle betrat, war da schon ein ziemliches Gewusel. Die kleineren Kinder bereiteten ihren Weihnachtsstrumpf für die Ankunft von Father Christmas, dem englischen Weihnachtsmann vor, während die Erwachsenen die letzten Vorbereitungen für das große Christmas Dinner am nächsten Tag trafen und letzte Hand an die ‚Christmas Decorations‘ und Weihnachtsgeschenke legten. Auch das verstauen gigantischer Mengen von Lebensmitteln, die ein Lieferdienst aus Middle Fritham gebracht hatte, beschäftigte einige der Männer. Fast alle würden bis zum ‚Boxing Day‘, also dem 26.12., bleiben, da musste schon genug zum Essen im Haus sein.
Einige waren auch aufgebrochen um am Weihnachtsabend einem Gottesdienst in South Thoresby beizuwohnen. North Castlestone Manor hatte zwar eine eigene kleine Kapelle, aber Gottesdienste wurden hier schon lange nicht mehr gehalten. In Dauerschleife dudelten englische Christmas Pop-Songs aus einem Ghetto-Blaster der auf der Kamin-Einfassung der Vorhalle stand. „Do they know it's Christmas?“, „Driving Home for Christmas“, „Last Christmas“, „Mistletoe and Wine“, „Walking in the Air“ sowie weitere mehr oder weniger abgenudelte Scheußlichkeiten gaben sich ein wiederkehrendes Stelldichein.
Natürlich durften auch die ‚Chistmas Jumper‘, auffällige, mit witzigen bis geschmacklosen Winter- oder Weihnachtsmotiven versehene Pullover nicht fehlen. Onkel Jasper, Jasper Fetherston, ein Bruder von Adrians Mutter hatte wieder Mal den Vogel abgeschossen und stellte ein besonders grauenhaftes Exemplar an seinem sehr gedrungenen Körper zu Schau.
Adrian begrüßte alle, wobei er Mühe hatte, alle korrekt mit Namen anzusprechen. Man sah sich teilweise zu selten um sich an alle gleichermaßen zu erinnern. Von weitem entdeckte er auch Emma. Er musste schlucken und bemerkte wie trocken sein Mund wurde. Emma hatte sich zur Frau entwickelt, hatte in diesem Jahr wirklich einen entscheidenden Sprung nach vorne gemacht. Huldvoll lächelte sie ihm von weitem zu.
Später suchte er ihre Nähe und sie umarmte ihn tatsächlich zur Begrüßung. Er genoss ihren Geruch, ihr Parfüm und die Brüste die sich da an seinen Brustkorb drückten. Sie wechselten ein paar Worte, freundlich, einander sehr zugewandt, neckten sich auch ein wenig. Aber war da mehr? Adrian war sich da überhaupt nicht sicher, aber er würde es rausfinden! Den Rest des Abends nahmen ihn die Jungs in Beschlag, seine Cousins 1. bis 3. Grades und er verlor Emma aus den Augen.
******
Als Adrian erwachte, wusste er schon genau, was der Tag bringen würde. „The same procedure as every year“ wurde im Hause Molesworth und Hesketh-Fortescue ganz großgeschrieben. Soweit der Standard! Nun kam es ganz auf ihn an, was er draus machen würde.
Am Christmas Day, unserem 1. Weihnachtstag, durften zunächst die Kinder endlich die Weihnachtsgeschenke, die ‚Father Christmas‘ in der Nacht gebracht hatte öffnen. Morgens nur die kleinen Geschenke im ‚Christmas Stocking‘ (Weihnachtsstrumpf) und am Nachmittag so gegen 14 Uhr würden dann die großen Geschenke, die unterm Weihnachtsbaum lagen, geöffnet werden.
Um 15 Uhr würde wie immer im TV und Radio die königliche Weihnachtsansprache erfolgen - „the Kings's Speech“. Nach dem Tode von Elisabeth II., war es nun schon die dritte von King Charles.
Danach würde das Christmas Dinner, das große Weihnachtsessen, beginnen. Natürlich traditionell und klassisch mit ‚Christmas Starters‘ (Weihnachtlichen Vorspeisen ), ‚Roast Turkey‘ (Gefülltem Truthahn) als Hauptgericht und ‚Plum Pudding‘ als Weihnachtsdessert.
Ungeduldig lungerte er durch die Räumlichkeiten. Gegen 11.00 Uhr lief ihm endlich Emma, die offenbar lange geschlafen hatte, über den Weg.
Perfekt aufgebrezelt sah sie noch bezaubernder aus als am Vortag. Auch sie schien ehrlich erfreut. „Hi“, strahlte er sie an, „guten Morgen. Haben Mylady gut geschlafen?“
„Wenn er es genau wissen will: allerbestens! Komme er!“
Sie hakte ihn unter und dirigierte ihn Richtung Küche. „Ich habe einen Bärenhunger.“
Sie suchte seine Nähe, wie er beglückt feststellte.
In der Küche hatte Tante Lucinda, Lucinda Satterswaite aus dem Clan der Molesworth das Oberkommando über die fünfköpfige Küchenbrigade. Sie schaufelte sofort und ohne größere Nachfrage ein englisches Frühstück auf Emmas Teller. Fasziniert sah Adrian, der natürlich längst gefrühstückt hatte, ihr zu, wie sie Unmengen Baked Beans, Frühstückswürstchen, Back Bacon (Rückenspeck), Toast, Spiegelei sowie gebratene Tomaten und Champignons in sich hineinschaufelte. Den Black Pudding (Blutwurst) verschmähte sie zu seiner Beruhigung genau wie er.
„Und nun?“ Sie sah ihn ermunternd an, während sie sich mit der Serviette den Mund abtupfte.
„Ich würde sagen, wenn du dein Bäuerchen gemacht hast, machen wir einen Spaziergang.“
„Hej, nicht so frech …“ Aber sie meinte es nicht so. Es war natürlich in Ordnung, so durfte er mit ihr sprechen, denn sie kannten sich seit dem Kindergartenalter. Hatten sich auch über das Jahr ab und an auf Familienbesuchen und -feiern gesehen und mit einander gespielt und Blödsinn gemacht.
„Ernsthaft? Einen Spaziergang?“ Sie schaute skeptisch.
„Ernsthaft! Wird dir gefallen, wirst schon sehen. Wir treffen uns in 10 Minuten am Hinterausgang. Ist das ok?“
Sie bejahte und machte sich auf in ihr Quartier um eine Jacke zu holen. Auch Adrian flitzte durch lange verwinkelte Gänge zum „Jungenschlafsaal“. Als er die Tür aufriss war niemand da, nur der unnachahmliche Duft nach Jugendherberge lag in der Luft. Diese Mischung aus „Käsefüße“, „Jungbullengeruch“ und schlechter Lüftung. Er griff nicht nur seine Jacke, sondern auch seinen Schlafsack, ein High Tech-Teil, dass sich ziemlich klein machen ließ und locker in seinen kleinen Rucksack passte.
„Und - wo hin?“
Emma wartete bereits am Hinterausgang und hakte sich sofort unter, als er aus dem Haus trat.
„Lass dich überraschen!“
Er war happy, es fühlte sich gut an mit Emma Arm in Arm! Zielsicher führte er sie in der kühlen klaren Luft dieses sonnigen Tages in eine gewisse Richtung.
Schnell verstand sie: „Oh, zum Jagdhaus, gute Idee!“
Hinter dem Manor in einem Wäldchen, in Richtung auf das zwei Meilen entfernte South Thoresby und vom Herrenhaus nicht zu sehen, lag das sogenannte Jagdhaus. Es war eingeschossig und bestand eigentlich nur aus einer kleinen Küche, einem Bad und einem größeren Raum mit Kamin. Es wurde allgemein Jagdhaus genannt, aber war sicher nicht als solches gebaut, denn es lag kein Jagdbezirk darum. Es war wohl eher die Behausung eines Bediensteten der Herrschaften gewesen.
Jagdhaus …. wenn hier jemals was gejagt worden war, hatte es zwei Beine besessen und definitiv nur ein ganz, ganz kleines Fell.
Tausend mal …
‚Merry Christmas‘ – Geschichten vom Fest der Liebe
49 11-17 Minuten 0 Kommentare

Tausend mal …
Zugriffe gesamt: 4138
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.