Was war doch alles Gute aus Amerika gekommen? Angefangen von Kola, Kaugummi, Kriegen und Clinton, der ... Na, die Geschichte ist bekannt. Aber dann tauchten andere Begriffe in dem so beliebten Denglisch auf, die seit der Wende auch in den vereinigten Sprachgebrauch aufgenommen wurden. Die wirtschaftliche Kopulation der Wessies mit den Ossies, oder war es eher umgekehrt die Prostitution?, steigerte sich zu den seltsamsten Blüten. In diese fantasmagorische Scheinwelt schlich sich eine neue Krankheit des zivilisierten und perfekt organisierten zweiten Jahrtausends ein. Das waren die Messies. Die Amerikaner brachten das auf einen Punkt: Menschen zwischen Müll und Misere, besessen von einer wahren Sammelleidenschaft. Sie lebten in einem Haushalt, in dem sich alles anhäufte, von leeren Jogurtbechern bis zum abgelaufenen Lottoschein, alles war da und stapelte sich in der Wohnung.Rosamarie hielt missmutig die Dose mit dem Fischfutter über das Bassin. Sie war von einem ähnlichen, doch viel stärkeren Problem betroffen. Guppy, Gurami und ihr Raspora änderten die Schwimmbewegungen, schnappten nach dem Futter und starrten mit ausdruckslosen Augen wieder an das grün und blau phosphoreszierende Glas.
„Fisch müsste man sein, eine jener trägen Kreaturen, die tagtäglich ihre Kreise ziehen in dem schützenden Wasser, unbeirrt von den Wogen ...“ Rosamarie schüttelte unwirsch den Kopf. Sie war sentimental. Kein Wunder. Aber so schmalzige Betrachtungen beim Anblick sexneutraler Fische, das war lächerlich und auch bedenklich.
Rosamarie – oder sollte sie lieber ihren virtuellen, nämlich den Online-Namen „MagicRose“ benützen? - war auch nur einer jener bedauernswerten Messies, wenn sie ehrlich war. Nur mit einer anderen Duftnote. Was sie in den letzten Wochen im Internet erlebt und gesammelt hatte, war mehr als Müll und Misere, war blanker Terror. Wie schön, dass die Amerikaner auch für diese Abart menschlichen Verhaltens einen Ausdruck wussten: „Screwing-Trucker“ gehörte in die Kategorie der „Stalker“, die sich dem Objekt ihrer Begierde langsam und vorsichtig näherten, mit ihren Tintenfischklauen anfangs lieblichen Saft versprühten und dann ...
Anfang April hatte sich Rosamarie bei einem Provider angemeldet und sich in den Foren aufgehalten, bei denen sie nicht nur mitreden konnte, sondern die auch ihren Interessen entsprachen: Astrologie, Literatur, Justizwillkür oder der alltägliche Machtmissbrauch, das waren Themen, bei denen sie nach Gleichgesinnten suchte. Die Vielfalt, die sie entdeckte, war überwältigend, auch die Reaktionen, die sie bekam. Manchmal postete sie nächtelang, bis ihr die Augen zufielen und sie sich schwor, einige Zeit offline zu bleiben. Doch das Internetvirus hatte sie gepackt und in seinen Bann gezogen.
Die Foren wurden zu einem urprivaten, intimen Bereich. Sie sprach mit vielen anderen Namen, die kluge, witzige oder blöde Kommentare abgaben. Und dann kam eines Tags der Punkt, als ihr diese anonymen Kontakte nicht mehr genügten. Sie wollte wissen, welcher Mensch dahinter steckte, so wie auch sie immer mehr Schwierigkeiten hatte, ihre „Magicrose“ als unangreifbares Schutzschild aufrecht zu erhalten.
Jener Screwing-Trucker musste diesen Zeitpunkt ihrer bröckelnden Abwehr erraten haben. Seine Kommentare im „Such-is-Life-Forum“ wurden drängender, bittender, fordernder, aber auch offener. Sie klangen so ehrlich und liebebedürftig, dass Rosamarie nicht widerstehen konnte. Noch war sie versteckt in ihrer Anonymität, doch sie ließ unter einem anderen, natürlich nicht echten Internetnamen Post von Screwing-Trucker zu.
Jedes Mal hatte Rosamarie Herzklopfen, wenn sie eine Mail öffnete. Er schrieb zauberhaft, und immer war ein Bild angehängt oder eine Wave mit ein paar geflüsterten Worten und im Hintergrund Musik von einer der legendären Bands, bei denen Rosamarie vor langer Zeit ihr Herz verloren hatte.
Ohne dass sie wusste, wie Screwing-Trucker aussah, nahm er mehr und mehr in ihrem Leben Platz. Sie wähnte ihn zu spüren, von seiner Stimme und seinen Worten erfüllt, und Schritt für Schritt ging sie ihm entgegen. Am 2. Mai tauschten sie die ersten Bilder, und Rosamarie verfiel ihm und verfluchte ihn, weil er neunhundert Kilometer entfernt wohnte. Einmal kamen siebenunddreißig tiefrote Baccararosen, dann eine CD mit ihrer Lieblingsmusik oder ein Buch und immer wieder Rosen, Rosen, Rosen in allen Farben und Arten. Von dem Geruch bekam Rosamaries Katze Asthma und wurde ausgesprochen übellaunig, was Rosamarie ignorierte.
Der erste Heiratsantrag überraschte sie, nahm ihn nicht ernst und lehnte ihn ab. Kurz darauf fingen die nächtlichen Anrufe an, auf die sofort ein mehrseitiges Fax folgte, wenn sie das Gespräch beendete.
„Wolf, du darfst mich nicht so drängen. Ich mag dich, finde dich lieb und nett ...“
„Aber?“ Die Stimme in jener fernen Stadt bekam einen dunklen, vielleicht sogar drohenden Klang.
„Bitte, du musst mir Zeit lassen.“
„Wir kennen uns drei Monate.“
Was waren lächerliche zwölf Wochen? Ein Nichts nach so langer Zeit des Alleinseins. Doch Rosamarie fühlte sich in die Defensive gedrängt, mit dem Rücken an der Wand stehend. Sie musste ganz schnell etwas ändern und wusste nicht, was und vor allem wie.
Warum war sie aus dem Dunkeln aufgetaucht, hatte Name und Telefonnummer preisgegeben? Sie wurde diesen Mann nicht mehr los. Mit Vernunft war ihm nicht beizukommen, mit Sarkasmus oder Zorn erst recht nicht. Und wenn sie sich einen Tag taub stellte, dann fing der nächtliche Terror mit Anrufen und Faxen wieder an.
Screwing-Trucker war krank, liebestoll, abartig eifersüchtig und psychisch gestört. Bei jedem ablehnenden Wort, das Rosamarie ihm sagte oder mailte, fing er mit Drohungen an und spielte ihr Selbstmordszenarien vor. Fünf Tage stellte Rosamarie ihr Telefon und die Klingel ab, der schwarze Monitor ihres Rechners war wie ein warnendes Menetekel, und morgens verließ sie das Haus mit einer blonden Perücke vom letzten Fasching und einer riesigen Sonnenbrille und rannte gehetzt zur U-Bahn-Station. Dann las sie die Schlagzeile einer stadtbekannten Skandalzeitung: „Terrortod aus Liebe“. Rosamarie flüchtete voller Panik nach Hause, schloss sämtliche Rollläden und wartete, bis ihr Zittern nachließ. Ihre Katze blickte sie voller Verachtung an, verschmähte das morgendliche Futter und verkroch sich hinter dem Vorhang.
Als sie das nächste Mal die Tür öffnete, lagen dort fünfzig weiße Chrysanthemen, am folgenden Tag ein Bukett mit fünfundfünfzig weißen Lilien. Die Blumen des Todes.
Selbstmitleid überfiel Rosamarie. Sie war einem Psychopathen ausgeliefert, ihre Katze missachtete sie, und ihr Leben war aus den Fugen geraten.
Und ihre beste Freundin lachte sie aus.
„Mann, diesen Kerl loszuwerden, kann doch nicht so schwer sein. Er ist doch auch nur ein armes Schwein, dem du den Kopf verdreht hast. Erinnerst du dich an ...“
„Halt den Mund“, schrie Rosamarie beinahe. Sie wollte keinen Namen aus ihrer Vergangenheit hören. Bibis tiefes, spöttisches Lachen provozierte sie noch mehr.
„Reinhard war ein langweiliger Börsenhai, den ich von seinem Materialismus auf eine zwischenmenschliche Ebene runtergebracht habe und der dann ...“
„Stante pede zu Frau und Kinderchen zurückkehrte, als du ihm ...“
„Okay, lass das. Aber Wolf ist ein Stalker von der schlimmsten Sorte.“
„Ein wer?“
Woher sollte Bibi in ihrer heilen Blümchenwelt diesen Begriff auch kennen?
„Das sind Kerle, die mit talken anfangen, irgendwann den Sex vorschalten und ausflippen, wenn sie auf der Strecke bleiben und nicht erhört werden.“
„Wieder so ein Schwachsinn aus Amerika?“
„Ja, aber das ist mir egal. Rolf bedroht mich, macht mir mein Leben kaputt, vielleicht bringt er mich bald um.“
„Klar, er steht vor deiner Tür, heult dir den einsamen Wolf vor, bleckt die Zähne, vergewaltigt das Rotkäppchen und verspeist dann die Einzelteile, die von dir noch übrig sind.“
Rosamarie drückte wutentbrannt auf die Stopptaste. Bibi hatte nichts kapiert, war eine frigide, ehegeschädigte Ignorantin, die null Ahnung hatte, weder von Männern noch von Sex etwas verstand. Rosamarie stellte den Fernseher ein. Super, in drohendem Schwarz-Weiß schlich dort der Mörder die steile Treppe auf den Speicher, auf den sich das vor Angst bibbernde Opfer geflüchtet hatte. Kein normaler oder vernünftiger Mensch versteckte sich an einem Ort, von dem es kein Zurück mehr gab. Das taten nur Schauspieler in schlechten Drehbüchern. Doch Rosamarie gehörte genau in diese Kategorie. Rolf sollte kommen, sie bis in den Speicher verfolgen, sie finden und nehmen, und dann ...
Ein Scheppern erklang. Ekelhaft und bedrohlich. Rosamarie zitterte. Ihr Atem ging flach und ventilierte. Das war das Ende. Sie rutschte von der Couch, kroch unter den niedrigen Tisch und wartete. Noch einmal schabte Metall auf Metall. Der Schlächter wetzte sein Messer. Es war egal. Rosamarie tastete an ihren Hals. Da hing ein kleiner Brilli, als Waffe ungeeignet. Sie krümmte sich zu einer Kugel zusammen. Stille herrschte. Wo stand er? Sie kroch immer mehr zusammen und fand den Absatz ihres Schuhs. Er hatte ein Metallteil. Die beste Waffe, die sie sich im Augenblick wünschen konnte. Sie zog den Schuh aus und wartete. Ihr war bewusst, was geschehen würde. Rolf würde sein Werk vollenden. Sie würde sich nicht wehren. Nur nicht den Zorn durch Abwehr anstacheln, sie wollte leben, weiterleben, und den Preis einer Einmal-Rein-und-Raus-Demonstration eines kranken Gehirns würde sie schweigend ertragen, und dann genau in dem Augenblick, in dem Rolf nicht mehr klar denken konnte, weil er sich als Sieger wähnte, den ihm sein mickriges Anhängsel vorspielte, würde sie den spitzen Absatz nehmen, zustoßen, blindwütig, mit aller Gewalt, derer sie fähig war, sich an seinen Schreien, seinem Blut weiden und die Bullen rufen, die sie von ihrem Albtraum befreien würden.
Ein Geräusch näherte sich. Fast unhörbar, aber unabweislich. Es war so weit. Rosamarie krümmte sich noch mehr. Gleichzeitig war ihr Körper bis zum Zerreißen gespannt. Ihre rechte Hand umklammerte zitternd den Schuh.
„Miau.“
Duda, ihre unerträglich empfindsame und eigenwillige Katze, stand vor Rosamarie und starrte sie ausdruckslos an.
Verdammt, von dem Moment an, als diese blödsinnige Kreatur Rosamarie beinahe den Herztod beschert hatte, weil sie in ihrer Eifersucht in der nächtlichen Stille ein wenig Geschirr zerdepperte hatte, hörten auch in der nächsten Zeit die Angriffe von dem Stalker auf. Und Rosamarie hatte sich genauso benommen, wie es die Internet-Ratgeber in solchen Fällen empfahlen. Und was war passiert? Rein gar nichts.
Duda wich mit einem höhnischen Fauchen dem Schuh aus, den Rosamarie nach ihr warf.
„Du Mistvieh, wenn ich dir sage, wer mir im Forum `Ein Mann hat keine Chance bei einer Frau´ heute geantwortet hat, dann ...“
Rosamarie schwieg. Woher sollte die Katze sie verstehen und antworten?
Einige Zeit später tauchte in der ärztlichen Fachpresse ein neuer Fachausdruck auf, über den sich Rosamarie gefreut hätte. Eine dieser Koryphäen wollte sie mit dem Namen lebendig erhalten. Doch er scheiterte. So heißt diese Krankheit heute ganz einfach: „Netstalkrapeomania mit letalem exitus“.
Es ist zwar unwichtig. Aber Duda wohnt jetzt bei Bibi, die nie einen Computer besessen hatte. Und wenn ...
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