Ela hatte sich selbst über die Regenbogenbrücke gebracht. Über eine Onlineapotheke hatte sie sich anscheinend frei verkäufliche Einschlafhilfen besorgt. Zwei Päckchen mit je zwanzig Tabletten hatte sie geschluckt. Zusammen mit den Beruhigungsmitteln vom Arzt, ein tödlicher Cocktail.
Zusätzlich hatte sie sich eine Rasierklinge fast fünfzehn Zentimeter längst durch beide Arme gezogen. Die Frau wollte unbedingt sterben, so viel stand fest.
Ich werde das Bild wohl nie wieder vergessen können, was sie uns bot. Halbnackt, nur mit einem Höschen an, lag sie da. Übersät mit den Brandnarben auf ihrem Körper, der halben Brustwarze auf ihrer linken Brust, weil man ihr die andere Hälfte abgeschnitten hatte. Im Todeskampf hatte sie sich eingepisst und eingekackt. Ihr Anblick war ebenso entwürdigend, wie die letzten Monate ihres Lebens wohl gewesen waren. Shiva hatte den leblosen Körper mit einer Decke zugedeckt, bis die Polizei und der Krankenwagen eintrafen. Der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen.
Ich machte mir die schlimmsten Vorwürfe, weil ich sie doch indirekt in die Arme dieser Bande getrieben hatte. Hätte ich nicht so von dem dicken, langen Schwanz von Sven geschwärmt, und hätte ich sie nicht gedrängt, das Teil doch selbst mal auszuprobieren, würde sie vielleicht jetzt noch leben.
Dazu das viele Blut, ihr entrückter Gesichtsausdruck, ihr verdrehter Körper auf der Couch, die Pillenschachteln, wie sollte ich damit fertigwerden? Ich dachte an Freya, die vielleicht mit ihrem Psychokram helfen konnte.
Der Tod von Ela war tragisch, berührte mich komischerweise aber nicht so, wie das Gesamtbild des ‚Tatorts‘, das mir einen kalten Schauer über den Rücken trieb.
Doch über all dem schwebte eine viel schärfere Klinge, die Chris bedrohlich über mir schwenkte. Ich dachte komischerweise keine Sekunde darüber nach, wie die Alternative zur Villa, zu Chris und Falk, zu Shiva und Franzi aussehen könnte. Einfach deshalb, weil es für mich keine gab. Das Ergebnis lag absolut klar vor mir: Job weg, Wohnung weg, Geld weg. Im Grunde also der direkte Weg zurück in die Gosse. Nein, diese Aussicht war keine, die ich ernsthaft in Erwägung zog.
Wieso auch? Ich liebte Chris und Falk. Ihn, und nicht den Reichtum um ihn herum. Mit seinem Lächeln, mit seinem Gehfehler wegen der kaputten Hüfte, wegen seinem herzlichen Wesen, seiner Wärme und ..., ach die Liste könnte ich endlos weiter aufzählen. Noch in Monaco hatte ich ihm gesagt, dass ich mir Kinder mit ihm wünschen würde. Daran hatte sich seit gestern nichts geändert. Er war ja über Nacht schließlich nicht zu einem anderen Menschen geworden.
Die Villa war auch zu meinem Zuhause geworden. Sie war groß sicherlich, aber wenn wir tatsächlich noch ein oder zwei Kinder darin großziehen sollten, wäre sie schon gar nicht mehr so groß. Der Pool … tausende Menschen haben einen im Garten, niemanden kümmerte es, und wir hatten eben einen im Keller. Zugegeben etwas größer, aber wenn schon. Auto, Boot ... auch nichts Besonderes, wenn man es nicht so genau nahm. Dann war ich eben eine Unternehmergattin, was soll’s! Je länger ich über diese Möglichkeit der Zukunft nachdachte, desto mehr merkte ich, wie selbstgefällig, narzisstisch und dumm ich gewesen war!
Ich hatte mich auf eine Liege im Wellnessbereich gelegt. Genau in dieses Stück Luxus, gegen das ich so oft gewettert hatte. Der weiße Bademantel war flauschig weich. In einer Qualität, die ich mir selbst nie im Leben hätte leisten können. Vermutlich hätte ich ihn im Laden gesehen, seinen Stoff gefühlt und traurig wieder zurückgelegt, weil er nicht ansatzweise meiner Preisklasse entsprach. Und hier trug ich ihn mit einer Selbstverständlichkeit, die mich traurig machte. Traurig, weil er nur noch ein Stück mehr deutlich machte, wie ungerecht und selbstgefällig ich gewesen war.
Am liebsten hätte ich mich selbst bestraft, gepeitscht, geschlagen. Genau in dem Moment kam Franzi zu mir an die Liege, setzte sich auf die andere neben meiner.
„Magst du drüber reden?“, kam sie direkt auf den Punkt.
„Chris hat dir doch sicher schon alles erzählt, was kann ich da noch sagen?“, antwortete ich niedergeschlagen.
„Na klar hat er das! Und wie stehst du dazu?“
Warum konnte ich ihr jetzt nicht sofort sagen, wie es um meinen Gemütszustand bestellt war? Wieso fiel es mir so schwer zuzugeben, wie dumm ich war? Stattdessen heulte ich los, kniete mich vor Franzi und klammerte mich an sie. Ich heulte in ihren üppigen Busen hinein. Und sie? Sie nahm mich liebevoll in ihre Arme, strich mir übers Haar und drückte mich an sich, bis ich mich etwas beruhigt hatte.
„Ach Josie, meine kleine Josie, du liebst ihn sehr, oder?“, fragte sie leise.
„Und wie!“, schluchzte ich.
„Er dich auch! Wie keine andere vor dir. Und ich hab sie alle kommen und gehen sehen. Er hat vorhin genauso geweint, wie du eben. Es tut mir weh, euch so leiden zu sehen. Ihr seid doch beide meine Kinder … irgendwie. Ich schick ihn jetzt zu dir runter. Und dann klärt ihr das gefälligst. Josie, hör auf dein Herz und blende das hier alles um dich herum aus, nur dann wirst du die richtige Entscheidung treffen können!“
„Ich hab mich doch schon längst entschieden! Ich weiß nur nicht, wie ich mich bei ihm entschuldigen soll.“, heulte ich wieder los.
„Denk nicht so viel darüber nach, er wird dich verstehen, glaub mir. Ich kenne meinen Jungen!“
Franzi stand auf, sah zu mir runter mit einem Blick, der mir unter die Haut ging. Wie meine Mutter früher, wenn ich mal wieder Dummheiten angestellt hatte. Strafend, aber mit einer riesigen Portion Liebe darin.
„Sei tapfer, mein Schatz und tue das Richtige! Er braucht dich, und Falk braucht dich auch. Vor allem, wenn ich bald für zwei Monate weg sein werde.“, sagte Franzi leise.
„Wo willst du hin, du wirst uns doch nicht verlassen?“
„Nein, nein, keine Sorge! Nur eine Kur, die brauch ich nach dem ganzen Stress mit der Entführung und dem Anschlag!“
Dann beugte sie sich zu mir herunter, küsste mich sanft auf die Stirn und flüsterte weiter:
„Wenn ich dich in seiner Nähe weiß, kann ich mit ruhigem Gewissen fahren. Dann weiß ich, dass mit Chris und Falk alles in Ordnung ist. Weißt du eigentlich, dass Falk dich ‚Mami‘ nennt, wenn er von dir spricht?“
Einen Moment lag ihre flache Hand auf meiner Wange, dann drehte sie sich wortlos um und verschwand aus meinem Blickfeld. Franzis Schritte verhallten zwar irgendwo im Raum, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, ihre Aura wäre bei mir geblieben, als würde ihr Geist noch neben mir stehen und ihre warme Hand auf meiner Schulter liegen.
Ich hatte mich wieder auf die Liege zurückgelegt, starrte auf die schillernde Wasserfläche. Badelatschen klatschten auf den Fliesen, wurden lauter. Chris stand neben mir, in dem gleichen Bademantel, wie ich ihn anhatte.
In seiner Hand hatte er einen Umschlag. Ein Schreck fuhr mir durch die Knochen! Sollte darin meine Kündigung sein? Hatte er die Zeit genutzt und einen Vertrag aufgesetzt mit allem drin, was er rückabwickeln wollte? Zum Beispiel den Mitvertrag meiner Wohnung oder der Schenkung des Cabrios?
„Sieh mal“, sagte er mit gewohnt weicher Stimme, „Freya und Leon haben eine Einladungskarte zur Hochzeit geschickt! Wir gehen doch hin?“
„Wenn du mich noch mitnehmen willst?“, antwortete ich betont leise.
„Mit wem sonst? Oder hast du eine Entscheidung gegen mich und Falk getroffen?“
„Nein, ich habe …, es ist …, niemals würde ich …, mach es mir doch nicht so schwer Chris …, es tut mir leid …!“
„ICH mache es dir doch nicht schwer, das machst DU ganz allein, Liebling! Mir reicht ein einfaches ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Mehr brauche ich nicht! Also nochmal meine Frage: Willst du bei mir bleiben, hier in der Villa, mit Falk und Franzi, mit Hubschrauber und Sportwagen … und als meine Frau?“
Ich flog fast von der Liege, weil der Schwung zu heftig war, mit dem ich ihm ihn die Arme sprang.
„Ja, ich will es!“, heulte ich vor Freude in seinen Bademantel.
Chris sagte erst mal nichts, ließ mich ausweinen. Hielt mich fest, bis das Zittern nachließ, das mich schüttelte.
„Dann werden wir alles ganz in Ruhe besprechen! Wie wir mit Monaco umgehen, ob, und wenn ja, was wir hier verändern können. Wie wir vielleicht den Betrieb umorganisieren, damit du dich wohlfühlen kannst. Als Kompromiss sozusagen. Ist das ein Angebot?“
„Ich brauche keinen Kompromiss, Chris! Monaco brauchen wir doch nun wirklich nicht. Und hier ist doch alles schön. Im Betrieb sind wir bei allen doch sowieso schon Chef und Chefin. Ich finde, wir brauchen nichts zu ändern.“
„Ich hatte gehofft, dass du das sagst! Hab ich mich doch nicht in dir getäuscht! So ist meine Josie, so liebe ich sie. Du bist und bleibst unvergleichlich!“
Dabei war es Chris, der unvergleichlich war! Franzi hatte recht, natürlich verstand er mich. Und er hatte recht damit, mich so deutlich in die Schranken zu weisen, bevor ich mich in etwas verrannt hätte. Es war richtig, mir meine Grenzen aufzuzeigen, wenn ich mich in seiner Welt zurechtfinden wollte.
Minutenlang lagen wir uns in den Armen und weinten um die Wette. Auch bei Chris löste sich die Anspannung.
Gegenseitig küssten wir uns die salzigen Tränen weg und lächelten uns nach einer Weile verliebt an.
„Komm Süße, lass uns zu Franzi gehen! Sie wartet sicher schon auf uns. Übrigens, mein aufrichtiges Beileid wegen Ela. Möchtest du darüber reden?“
„Das ist wirklich ganz lieb Chris, vielleicht nachher. Ich muss aber erst mit Freya telefonieren, die Bilder in meinem Kopf sind grausam, verstehst du?“
„Mach das, gute Idee. Vielleicht kannst du ja heute noch zu ihr fahren.“
„Du wärst nicht böse?“
„Nein, warum sollte ich?! Sie kann dir bestimmt besser helfen als ich.“
Franzi stand schon im Türrahmen der Küche, als wir die Treppe aus dem Kellergeschoss nach oben kamen.
„Könnt ihr bitte das nächste Mal etwas lauter sprechen? Ich hab nichts verstanden. Was ist nun?“
Chris und ich sahen uns an und grinsten. Dann stellte ich mich auf Zehenspitzen vor ihn und küsste ihn innig.
„Aha, dann ist ja alles klar. Gut so, sonst hätte ich euch auch windelweich prügeln müssen.“, umklammerte sie uns beide.
Am Abendbrottisch ließen Chris und ich uns nicht anmerken, dass wir gerade eine dunkle Wolke über unseren Köpfen vertrieben hatten.
„Ok, jetzt wo wir hier alle zusammensitzen,“ fing Franzi an, „ich werde für zwei Monate eine Kur antreten, dann müsst ihr alleine ohne mich klarkommen. Kriegt ihr das hin, ohne euch die Köpfe einzuschlagen?“
„Ja, Mama!“, lachten wir alle zusammen.
„Versprecht ihr das?“
„Ja, Mama, wir versprechen es! Hier wird noch alles stehen, wenn du gut erholt zurückkommst.“, legte ich ihr meine Hand auf den Unterarm.
„Und jetzt zu dir kleiner Mann, du hast mich vorhin auf dem Flughafen ‚Mama‘ genannt. Das ist nicht schlimm, es freut
mich sogar. Franzi hat mir gesagt, dass du das schon öfter gemacht hast. Verrätst du mir, warum?“
„Alle in meinem Hort haben eine Mama, nur ich nicht. Das macht mich traurig. Außerdem wünsche ich mir, dass du meine Mama wirst. Bist du jetzt böse mit mir?“, kam seine Antwort schlagfertig und im Brustton voller Überzeugung.
Ich hockte mich neben seinen Küchenstuhl und knuddelte ihn an mich, drückte seine Wange fest gegen meine.
„Nein, Falk, du hast alles Recht der Welt dir eine Mama zu wünschen. Und wenn dein Papa nicht eifersüchtig wird und auch nichts dagegen hat, darfst du mich gern weiter ‚Mama‘ nennen.“, küsste ich ihn auf seine rot gewordene Wange und setzte mich wieder auf meinen Platz.
„Ach Shiva, wie geht es eigentlich Marc? Bei der ganzen Aufregung heute, hab ich ganz vergessen zu fragen.“, wurde Chris neugierig.
„Dem geht’s prima, ich fahre nachher noch zu ihm.“
„Grüß mal schön. Vielleicht können wir ja mal wieder was zusammen machen.“, nickte Chris ihr zu.
Tiefen und Höhen
Josie
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