Timo - Kapitel 1

Vom Himmel geschickt

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Timo - Kapitel 1

Timo - Kapitel 1

Gero Hard

„Sie haben ihr das Leben gerettet. Wir werden sie sofort auf die Intensiv bringen. Wegen der Kinder musste ich die Polizei informieren. Sie kennen das ja. Bitte warten Sie hier, wir müssen schnell los.“

„Wohin bringen Sie sie?“  

„Erstmal ins Harz-Klinikum Blankenburg. Dann sehen wir weiter.“  

„Gut, ich komme später mit den Kindern dorthin.“      

Der Mediziner legt kurz aber beruhigend die Hand auf die Schulter der Kinder. „Wird schon wieder.“ murmelt er und springt dann in seinen rot/weiß beklebten Audi Q7. Sowohl der Kranken- als auch der Notarztwagen brausen mit durchdrehenden Rädern und mit Blaulicht davon. Noch lange kann man den durchdringenden Ton des Martinshorns hören. Jetzt bin ich allein mit den Kindern. Nur langsam fällt die Anspannung von mir ab.

Emma ist die Erste, die sich weinend an mich drückt. „Wo sollen wir denn nun hin?“ fragt sie mich. „Habt ihr denn keinen Papa, oder einen Opa, der sich um euch kümmern kann?“

„Papa, will nach dem Tod von Mama nichts mehr mit uns zu tun haben. Er säuft nur noch und will uns nicht mehr sehen. Er hat sogar auf sein Besuchsrecht verzichtet, hat Mama uns gesagt.“

„Und Opa?“   frage ich nach.

„Opa ist auch im Himmel. Er hatte doch mit Mama zusammen einen Autounfall auf der Autobahn. Sie standen im Stau und ein Laster ist ungebremst in sie hineingerast.“ erzählt mir Peter.

Jetzt verstehe ich. Sofort wird mir klar, dass die beiden Mäuse entweder zu Pflegeeltern oder ins Heim müssen. Zumindest, bis ihre Oma wieder für sie Sorgen kann.

„Wird Oma wieder gesund?“ fragt mich Emma ängstlich. Die Frage habe ich befürchtet. Soll ich sie anlügen und ihnen sagen, dass alles wieder gut wird, so wie der Notarzt es versucht hat? Oder wäre es besser ihnen zu sagen, dass ich es nicht weiß? Ich entschließe mich für eine sanfte Version, sie auf den Ernst der Lage vorzubereiten.

Im gleichen Augenblick, wo ich loslegen will, kommt die Polizei um die Kurve und stoppt vor uns. Emma drückt sich noch fester an mich. Auch Peter sucht weiter Schutz in meinem Arm.

Eine Polizistin kommt um den blau-silbernen VW Passat herum und kniet sich vor uns. Sie ist jung, was ihr bei den Kindern einen Vorteil einbringt. Und sie geht sensibel mit den Gefühlen der Kinder um. Das macht sie gut.

Es gelingt ihr, den Namen und Adresse von ihrer Oma zu erfragen. Und dass es sonst niemanden gibt, der auf sie wartet. Ich höre aufmerksam zu und kann mir die Eckdaten einprägen. „Dann müsst ihr mit uns mitkommen.“  sagt die junge Gesetzeshüterin sanft zu den Kindern.

„Ich will aber bei dem Mann bleiben, er ist so nett.“ antwortet Emma der Polizistin wütend.

„Das geht leider nicht Engelchen. Der Mann ist fremd und wir haben unsere Vorschriften. Wir müssen mal sehen, wo wir euch unterbringen. Aber ich verspreche dir, dass wir liebe Leute für euch suchen, bis es eurer Oma wieder besser geht.“

„Frau Kommissarin, wenn es ok ist, würde ich die Beiden gern mit zu mir nehmen. Ich kann für sie sorgen und mit Ihnen zu ihrer Oma fahren. Ich habe Zeit und Platz genug. Sie dürfen mich gern überprüfen.“

Ich kenne die Dienstgrade der Polizei. Sie ist erstaunt, dass ich sie richtig anspreche und lächelt mich an. Ich lächle zurück und halte ihr eine Visitenkarte von mir hin, die sie kurz überfliegt.

„Ah ja, das erklärt, warum sie der Frau Berger das Leben retten konnten. Aber sie verstehen … das Jugendamt entscheidet. Aber ich gebe ihr Angebot gern weiter. Es ist fast Wochenende, da wird es erfahrungsgemäß schwierig passende Pflegeeltern zu finden.“

„Ich würde mich freuen, wenn ich helfen kann.“ wiederhole ich noch einmal deutlich. „Darf ich fragen, wie sie heißen, damit ich Frau Berger Auskunft geben kann, wenn sie aufwacht?“

„Wagner, Sandra Wagner. Und das ist mein Kollege Fred von Lienen. Es ist Ihnen wirklich ernst oder?“

„Ja Frau Kommissarin, ist es. Das Schicksal der Kinder und von Frau Berger hat mich berührt. Ich fahre gleich in die Klinik.“

„Ok Herr Schüttler, wir melden uns bei Ihnen. Handynummer habe ich ja. Und vielen Dank für alles.“

„Ist doch mein Beruf.“ zucke ich mit den Schultern.

Die Kommissarin nimmt die Geschwister an die Hand und zieht sie mit zum Polizeiwagen. Es versetzt mir einen Stich ins Herz, sie bitterlich weinen zu sehen. Ängstlich und flehend sehen sie mich an, während sie sich im Fond des Fahrzeuges anschnallen müssen. Ihre Augen fragen: „Warum hilfst du uns denn nicht?“  

Ich komme mir vor, als würde ich sie im Stich lassen, doch dabei würde ich jetzt nichts lieber tun, als mich um Emma und Peter kümmern, aber ich darf leider nicht. Sie sind sich in diesem Augenblick als Geschwister näher als je zuvor in ihrem noch so jungen Leben. Sie spüren das selbst und halten sich fest an den Händen.

Beide Polizisten nicken mir kurz zu, setzen sich in ihren Dienstwagen und rauschen davon. Die Kinder sehen mich über ihre Schultern hinweg durch die Heckscheibe an. In ihrem Blick ist Traurigkeit, Verzweiflung und Angst.

Auf die Burg zieht mich nichts mehr. Ich will nur noch nach Hause. Duschen, umziehen, und dann ins Krankenhaus zu Julia. Im Kopf kreisen die Bilder von ihr. Wieso war ihr Kreislauf zusammengebrochen, wieso hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen? Wie sie im Gras lag, verdreht, ungewöhnlich. Hoffentlich schafft sie es.

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Auf die Intensivstation dürfen sonst nur nahe Angehörige. Aber Julia Berger hat niemanden mehr. Zumindest weiß ich von keinen. Ihre Tochter war zusammen mit ihrem Mann tödlich verunglückt und von weiteren Verwandten hatten die Kinder nichts erzählt. Keine anderen Onkel oder Tanten.

Nach einigem Zureden haben mich die Ärzte zu ihr gelassen. Hellgrüne Hauben über Schuhen und Haare,

und dann noch den üblichen Kittel, auf dem Rücken zu schnüren. Alles ist farblich perfekt in diesem typischen Klinik-Grün abgestimmt.

Leise öffne ich die Tür zu ihrem Krankenzimmer. Sie ist allein, wie sonst auch in ihrem Leben. Es scheint ihr Schicksal zu sein. Sie liegt auf dem Rücken, den Oberkörper leicht aufgestellt. Ihre Augen sind geschlossen. Sie sieht friedlich aus, wie ein schlafender Engel.

Neben ihrem Bett stehen zwei Monitore mit unzähligen Reglern und Knöpfen. Ein regelmäßig hüpfender Punkt flimmert über einen der Schirme und hinterlässt eine hellgrüne, gezackte Linie. Die Herzstromkurve wird vom EKG aufgezeichnet. Daneben ein blinkendes rotes Herz unter dem eine große ‚72‘ leuchtet. Nur der schrille Piepton, der ihren Puls anzeigt, zerreißt die Stille. Das sieht alles schon sehr gut, sogar fast normal aus, aber ich weiß es besser. Das Beatmungsgerät pumpt über einen Schlauch Luft in ihre Lungen. Sie atmet also noch nicht allein. Ergo ist sie auch noch nicht über den Berg.

Ich ziehe mir einen Stuhl neben ihr Bett, setze mich und sehe sie an. Sie hat feine Gesichtszüge, umrahmt von langen hellblonden Haaren, die leicht gewellt auf dem Kissen liegen. Eine süße kleine Stupsnase und sinnlich geschwungene, volle, zartrosa Lippen. Sie ist zweifelsfrei hübsch anzusehen.

Die dünne Decke, die eng auf ihrem Körper liegt, verhüllt eine schlanke Silhouette. Kurz kommen mir die Bilder ihrer entblößten Brust in den Sinn. Mittlere Größe, nicht mehr ganz so fest, aber von einer ‚Hängebrust‘ weit entfernt, mit einer gleichmäßig-schöne Form und ziemlich große Warenhöfe, wenn ich mich richtig erinnere. Wäre sie mir auf der Straße begegnet, hätte ich ihr bestimmt hinterher gesehen. Vielleicht sogar wie ein Macho gepfiffen. „Julia Julia“ flüstere ich versonnen vor mich hin, „was machst du nur für Sachen?“

Man hat uns beigebracht, dass Komapatienten im Unterbewusstsein vieles mitbekommen. Dass sie durch bekannte Stimmen ruhiger werden, Lieder erkennen, oder Berührungen wahrnehmen.

Ich nehme ihre Hand, die ruhig auf ihrer Decke liegt und halte sie. Mit der andere streiche ich ihr die goldene Strähne aus den Augen, die ihr ins Gesicht gefallen war.

Die arme Frau. Niemand kommt sie besuchen, niemand sorgt sich um sie. Vielleicht noch gute Nachbarn, Freunde oder Bekannte. Aber die wissen von ihrem Dilemma ja nichts.

„Julia, du kennst mich nicht. Ich bin Timo und habe dich gefunden. Du darfst nicht aufgeben, hörst du? Emma und Peter brauchen dich so sehr. Sie sind wirklich zuckersüß und haben es verdient, nicht alleine aufzuwachsen. Außerdem bist du zu jung um aufzugeben. Mach keine dummen Sachen. Es gibt noch so viel zu erleben, musst die Kinder beim Aufwachsen begleiten, das Leben ist zu hart, sie sind aufgeschmissen ohne dich. Wirf dein Leben nicht weg, es ist so wertvoll. Bitte Julia, sei stark.

Und wenn du dabei Hilfe brauchst, dann möchte ich dich gern unterstützen. Ich bin da, wenn du mich brauchst.

Und ich will auch gerne für die Kinder da sein. Sie sind doch noch so klein und kriegen das alleine nicht hin. Das Leben meinte es bisher schon nicht so gut mit ihnen. Die kleinen Seelen mussten schon viel zuviel Leid ertragen. Nicht du jetzt auch noch, das würden sie nicht verkraften. Du musst … nein … wir müssen stark sein, für die Zwerge.“

Das Piepen wird schneller und aus der ‚72‘ ist eine ‚95‘ geworden. Julias Augenlider bewegen sich, beginnen leicht zu flattern. Ihr Körper kämpft, ich kann es erkennen. Sie will aufwachen, aber es geht noch nicht. Man hat sie künstlich ruhiggestellt, damit der Körper Kraft sammeln kann.

Ich bleibe eine Weile bei ihr sitzen und halte ihre Hand. Sollte sie es spüren können, möchte ich ihr das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Mehr kann ich im Moment nicht für sie tun.  

Es ist fast Mittag und ich habe etwas Hunger. Aber ich weiß jetzt schon, dass ich heute Nachmittag wieder hier sein werde. Ich muss einfach. Ein sanfter Kuss auf die Stirn bevor ich gehe. Fast wirkt es so als würde sie lächeln. „Bis gleich Julia.“  Leise ziehe ich die schwere Tür hinter mir zu.

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Wie es wohl Peter und Emma in der Zwischenzeit ergangen ist. Mein Heimweg führt mich sowieso an der Polizeiwache vorbei. Ich entschließe mich anzuhalten und zu fragen. Frau Wagner war ja sehr nett, vielleicht gibt sie mir Auskunft.

Ich habe Glück. So erfahre ich, dass Julia Berger tatsächlich allein lebt, 48 Jahre alt ist und bis jetzt keine weiteren Verwandten ausfindig gemacht werden konnten. Deshalb hat das Jugendamt die Kinder übergangsweise in eine Pflegefamilie gegeben, die allerdings kaum Platz für gleich zwei Neuankömmlinge haben. Die Kinder müssten sich dort eine Couch zum Schlafen teilen, hätten aber zu essen und ein Dach über dem Kopf.

Aber Frau Wagner hat mir auch gesagt, dass das Jugendamt mein Angebot noch prüfen würde. Es könnte also gut sein, dass ich noch dazu angerufen werde, weil das Thema nicht abschließend geklärt ist.

Ich bin froh, dass die Kommissarin mir überhaupt was zu dem Fall sagt. Eigentlich darf sie das nicht. Sie ist auf meiner Seite. Auch wenn das nichts hilft, fühlt es sich gut an. Im Grunde geht mich der Fall ja auch nichts an. Aber er lässt mich einfach nicht los. Ob es daran liegt, dass ich Urlaub habe und nicht abschalten kann?

Oder liegt es an der besonderen Situation der vom Leben gebeutelten Familie? Oder ist es das Schicksal der Kinder, das mich berührt? Oder ist es Julia, die ich auch als Frau ganz interessant finde? Wahrscheinlich von allem ein bisschen.

Vor meinem Haus steht ein fremdes Auto, an dem eine pummelige ältere Dame angelehnt steht. Ich schätze sie auf deutlich über 50 Jahre. Streng nach hinten gekämmte Haare und den Pferdeschwanz von einem Haargummi gehalten. In ihrer Hand eine schwarze Mappe. So stelle ich mir eine strenge Beamtin vor. Ganz klar ein Vorurteil, aber es ist so, sorry.

„Hallo, ich bin Diana Müller vom Jugendamt. Sind sie Herr Timo Schüttler?“ begrüßt sie mich freundlich, als ich meinen Mittelklasse Audi vor meiner Garage geparkt habe.

„Ja, bin ich. Wie kann ich helfen?“ und reiche ihr die Hand, die sie mit einem freundlichen Lächeln annimmt.

„Es geht um Emma und Peter Meier. Wenn sie etwas Zeit haben, würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten.“

„Natürlich gern, kommen Sie.“ Ich führe sie in das Haus, wo sie sich gleich neugierig umsieht. Dann gehe ich mit ihr auf die Terrasse, wo ich ihr einen Platz und etwas zu trinken anbiete.

„Herr Schüttler, ich will nicht lange um den Brei herumreden. Wir haben ein kleines Problem. Die Kinder sind jetzt bei einer Familie, die bisher nur Tagespflegekinder betreut hat. Ihre Wohnung ist schlichtweg zu klein, um dauerhaft Kinder aufzunehmen. Außerdem hat mich die Mutter schon zweimal angerufen, weil sie die Kinder nicht beruhigen kann. Sie streiten und weinen die ganze Zeit, werfen vor Wut Gegenstände durch die Gegend, und wollen unbedingt zu Ihnen. Deshalb wollte, und ich muss es von Amtswegen auch, mir mal ein persönliches Bild über die Umstände hier bei Ihnen machen. Wäre es wirklich ok für sie, die Kinder hier für ein paar Tage aufzunehmen?“

„Ich verstehe, dass sie nachfragen müssen. Und ehrlich gesagt bin ich froh, dass Sie das tun. Ich werde Ihnen gern das Haus und den Garten zeigen. Wie Sie sicher wissen, bin ich bei der Berufsfeuerwehr in Magdeburg als Rettungssanitäter angestellt. Diese Woche habe ich Freischicht und dann zwei Wochen Urlaub. In dieser Zeit, würde ich die beiden Geister sehr gern aufnehmen. Seit der Scheidung lebe ich allein und habe mehr Platz im Haus als ich gebrauchen kann.“

Wir sehen uns zusammen das Haus an. Besonders interessieren sie die Kinderzimmer, das Bad und der Garten.

Dabei unterhalten wir uns ganz ungezwungen. Sie berichtet von der schweren Zeit, die die Kinder durchmachen mussten. Und auch von ihrem Vater, der dem Alkohol verfallen ist und dem seine Kinder völlig egal sind.

Erst heute war sie wieder bei ihm und wollte die Kinder in seine Obhut geben. Als Vater ist er die (bio)logische Konsequenz. Aber die Zustände dort, wären unhaltbar, sagt sie. Die Wohnung verdreckt, vermüllt wie bei einem Messi, er selbst lief nur in dreckiger Unterwäsche herum. Schon an der Haustür wurde sie von ihm abgewimmelt. Ich konnte ihr ansehen, dass sie immer noch unter den Eindrücken leidet.

Ich stelle fest, das Bild von Frau Müller muss ich grundlegend erneuern. Sie ist mir sympathisch und ich finde sie eigentlich ganz nett. So kann man sich von der Optik eines Menschen täuschen lassen.

„Also gut Herr Schüttler. Ich habe genug gesehen. Ich denke, die Kinder werden es bei Ihnen gut haben. Und hoffen wir mal, dass es Frau Berger bald wieder besser geht. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen die Kinder in etwa einer Stunde hier vorbeibringen. Und ich werde die Polizei bitten, Sie zu der Wohnung von Frau Berger zu begleiten, damit Ihnen dort die Tür geöffnet wird und Sie Sachen für die Kinder dort abholen können.“

Schon eine Dreiviertelstunde später klingelt es Sturm. Durch die Glastür sehe ich Emma vor Freude hüpfen. Und kaum ist die Tür offen, läuft sie mir in die Arme und schmiegt sich sofort an mich. Peter ist etwas zurückhaltender. Sein Blick streift argwöhnisch durch den Flur.

„Na das nenne ich mal eine stürmische Begrüßung.“ lacht Frau Müller. „Ich glaube, das war die richtige Entscheidung. Frau Wagner von der Polizei wird auch gleich hier sein. Sie muss nur eben die Schlüssel aus den persönlichen Sachen von Frau Berger aus der Klinik holen.“

„Haben Sie von dort schon neues gehört?“ frage ich Frau Müller.

„Leider nicht. Frau Berger liegt noch im künstlichen Koma. Wieso fragen Sie?“

„Weil ich vorhatte, heute Nachmittag wieder zu ihr zu fahren. Und wahrscheinlich dürfen die Kinder nicht mit auf die Intensiv. Und dabei wäre es so wichtig, sowohl für die Kids, als auch für Frau Berger.“

„Sie haben Recht, versuchen Sie’s ruhig. Vielleicht haben Sie ja Glück. Ich muss wieder los. Wenn was ist, melden Sie sie sich bitte sofort. Hier ist meine Karte. Auf der Rückseite steht meine Handynummer. Und vielen Dank.“

An der Haustür kommt uns die Polizistin entgegen. Emma will nicht mehr von meinem Arm herunter. Sie wird langsam schwer, aber es ist auszuhalten. Peter hat sich ins Wohnzimmer geschlichen und den Fernseher gestartet.

„Hallo Frau Kommissarin. Schön, dass sie da sind. Dann können wir ja gleich los, die Sachen holen?“

„Lassen Sie den Dienstgrad ruhig weg. Frau Wagner reicht mir völlig.“  lächelt sie mich an und folgt mir ins Wohnzimmer.

Das Gespräch mit Frau Müller und eben das Kurze im Flur mit Frau Wagner haben zusammen keine 10 Minuten gedauert. Aber in der kurzen Zeit ist Peter auf der Couch eingeschlafen. Der Tag war eindeutig zuviel für den kleinen Kerl. Auch Emma hat ihren Kopf müde an meine Schulter gelegt. Und ich sehe, dass es ihr schwerfällt, die Augen offen zu halten.

„Ui, ganz schlechtes Timing Frau Wagner. Die kleine Prinzessin hier ist auch am Limit. Ob wir unser Date um ne gute Stunde verschieben können?“

„Na klar, ich sehe zwei gute Argumente, die eindeutig dafürsprechen. Ich komme dann einfach wieder. Bis später, ich finde raus.“  Dann legt sie mir kurz ihre Hand auf den Arm, schenkt mir ein liebevolles Lächeln, und verschwindet leise durch die Haustür.

Dann lege ich Emma auf die andere Seite der Couch, decke beide mit einer kuscheligen Decke zu und schleiche mit meinem Handy auf die Terrasse.

Google hilft mir die Telefonnummer der Klinik zu finden. Dort lasse ich mich mit der Intensivstation verbinden.

Ich muss wissen, ob ich beide Kinder mit zu ihrer Oma nehmen darf. Es kostet etwas Überredungskunst und das gegebene Versprechen, sofort zu gehen, wenn es den Zustand von Frau Berger beeinflussen würde. Zum Dank werde ich dem Schwesternzimmer ein paar Blumen spendieren.

Im Wohnzimmer ist alles ruhig. Ich stehe einen Moment vor dem Polster und sehe den Zwergen beim Schlafen zu. Emma laufen im Schlaf ein paar Tränchen aus den Augen, die gleich im Kissen versickern, Peters Nerven lassen seine Finger unregelmäßig zucken.

In der Küche bereite ich ein paar kleine Sandwiches und warmen Kakao vor. Und ich setze Kaffee auf, vielleicht trinkt Frau Wagner ja noch einen mit.

Nebenbei fällt mir ein Buch von Sebastian Fitzek wieder ein, was ich schon lange lesen wollte. Jetzt ist ein guter Moment, mit dem Thriller anzufangen. Also entspannt auf einen Sessel geflegelt und mit einem letzten prüfenden Blick zu den Kindern, das Vorwort aufgeschlagen.

„Das Paket“  … Prolog … Als Emma die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern öffnete, ahnte sie nicht, dass sie dies zum letzten Mal tun würde. Nie wieder würde sie sich, mit ihrem Stoffelefanten bewaffnet, nachts um halb eins an ihre Mutter kuscheln, vorsichtig bemüht, Papa beim Ins-Bett-Krabbeln nicht aufzuwecken …

Als ich den Namen Emma lese, läuft mir ein kurzer Schauer über den Rücken. ‚an Mama kuscheln‘, oder ‚Papa nicht wecken‘ … wie sich das in gewisser Hinsicht mit meiner kleinen Prinzessin ähnelt. Oh Mann, das arme Ding. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte ohne meine Eltern aufwachsen müssen … kein schöner Gedanke.

Ich lese weiter und warte, bis meine neuen Untermieter aufwachen.

Über eine Stunde schlafen sie jetzt schon, als der Türgong sie zusammenzucken lässt. Peter reibt sich verschlafen die Augen und Emma sieht sich ängstlich um.

„Ist bestimmt nur die Polizei, wir wollen gleich zu euch nach Hause fahren und ein paar Sachen holen. Was zum Anziehen, Schlafanzüge, Zahnbürste und bisschen was an Spielzeug.“  beruhige ich die Kinder, die sich sofort entspannen.

Zusammen mit Frau Wagner komme ich ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich sofort zwischen die Kinder setzt. Sie kann gut mit ihnen umgehen, das ist mir heute Morgen schon aufgefallen.

„Na ihr zwei, ist der Onkel Schüttler denn auch nett zu euch?“ lächelt sie die Kids an. Emma nickt eifrig.

„Dann ist es ja gut. Dann brauch ich den Onkel ja nicht im Gefängnis einsperren.“ zieht sie die Kleine an sich heran und gibt ihr ein Küsschen auf den Kopf.

„Nein, bitte nicht“ mischt sich Peter ein, „dann müssen wir wieder zu den anderen Eltern. Und da ist es doof.“

„Keine Sorge, ich werde mich dafür einsetzen, dass ihr solange hierbleiben dürft, wie Herr Schüttler das möchte.“

„Timo“ berichtige ich sie. „Ihr beide dürft ‚Timo‘ zu mir sagen. Und Sie von mir aus auch, Frau Wagner.“

„Das finde ich gut, dann bitte Sandra in Zukunft.“

„Ok Sandra, darf ich dich auf einen Kaffee einladen? Ich habe frischen aufgesetzt. Und für euch beiden einen heißen Kakao?“

„Au ja“ kommt freudig von den Kindern, „Danke, gern“ von Sandra.

Eine knappe Stunde später stehen wir in Julias Wohnung. Es ist eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung. Sie selbst hat zugunsten der Kinder auf ein Schlafzimmer verzichtet und schläft offensichtlich auf der Couch.

Irgendwie hatten die Zwerge wohl die Hoffnung, ihre Oma könnte inzwischen wieder zu Hause sein und suchten sie in den Zimmern, kommen dann aber schnell enttäuscht und traurig wieder zurück.

Ich knie mich hin und nehme beide fest in den Arm. Sandra steht mit feuchten Augen da und sieht uns zu.

„Timo, du machst das echt super. Ich bin froh, dass Emma und Peter bei dir sein dürfen. Hoffentlich wird mein Verlobter auch mal so mit unseren Kindern umgehen.“

„Ach, das macht er bestimmt auch prima. Bei DER Mutter wird es ihm doch leicht fallen.“

„Ich bin mir da nicht so sicher. Er ist süß und lieb, kann aber auch mal ne andere Seite von sich zeigen. Ich bin im dritten Monat und hab echt schiss davor.“

„Herzlichen Glückwunsch. Wirst sehen, der wächst mit den Aufgaben. Alles wird gut werden. Und wenn nicht, dann kommst du zu mir, ich kümmere mich dann um deinen Nachwuchs.“  lache ich sie an.

Für den dummen Spruch ernte ich einen freundschaftlichen Seitenhieb in die Rippen. „Ich nehme dich beim Wort.“

Noch immer haben die Kinder ihre Arme um meinen Hals geschlungen.

„Eure Oma liegt noch im Krankenhaus. Wir werden sie gleich besuchen fahren, ist das ok für euch?“

„Au jaaa.“, hüpft Emma vor Freude und schenkt mir ein kindliches Küsschen auf die Wange.

„Emma, hast du denn auch ein Lieblingsbuch, aus dem dir die Oma was vorgelesen hat?“

„Ja, ein Märchenbuch.“

„Was hältst du davon, wenn wir das mitnehmen und ich dir heute Abend daraus vorlese. Und im Krankenhaus kannst du ja deiner Oma was vorlesen, wie findest du das?“

„Prima, das machen wir.“

Emma rennt in ihr Zimmer und stöbert in einem Regal nach dem richtigen Buch. Sandra ist bei ihr und packt ein paar Anziehsachen in eine schnell gefundene Reisetasche.

Es fällt auf, dass beide Kinder nicht sehr viele Spielsachen haben und nur wenige Möbel in den Kinderzimmern aufgestellt sind. Überhaupt ist die Wohnung sehr spartanisch eingerichtet. So wie es aussieht, muss Julia jeden Penny zweimal umdrehen, um die kleine Familie über die Runden zu bringen.

Peter steht kurze Zeit später mit einem gepackten Rucksack im Flur. Erstaunlich, wie erwachsen er sich für sein Alter verhält. Er gibt sich stark und ist damit ein gutes Vorbild für seine Schwester. Ich bin gerade sehr stolz auf ihn und bin froh, dass er da ist.

Genau wie Sandra, die mir in diesem Moment eine große Hilfe ist. Nicht nur mit den Kindern, sondern auch beim Packen der Nachtwäsche und Hygieneartikel für Julia. Ein bisschen peinlich ist es mir doch, in ihren persönlichen Dingen herumzuwühlen, in ihren Slips und BHs. Im Nachtschränkchen finden wir auch zufällig ihren pinkfarbenen Silikon-Männerersatz, als wir nach frischer Unterwäsche suchen.

Sandra sieht mich lächelnd an, zuckt kurz mit den Schultern und sagt: „Die letzten Geheimnisse einer Frau.“

„Ist doch ganz natürlich.“

„Bist du mit allem so offen? Mein Freund verbietet mir solche Spielzeuge. Er meint, für ihn würde es sich dann anfühlen, als würde ich ihn betrügen und er wäre mir nicht mehr genug.“

„Wie blöd ist der denn. Oh Mist, entschuldige. Aber ist doch wahr. Eine glückliche Frau in seinen Armen zu halten, ist doch viel schöner, als wenn unbefriedigte Bedürfnisse zwischen einem stehen. Und wenn man solche Sachen dann noch in das eigene Liebensspiel mit einbaut, warum denn nicht?“

Sandra sieht mich einen Moment regungslos an. Schon einen Moment zu lange, als das es nur ein flüchtiger Blick ist. In ihren Augen sehe ich ein verführerisches Funkeln von dem ich nicht weiß, wie ich es deuten soll.

Sie ist jung und sie ist hübsch, verdammt hübsch sogar. Und ganz sicher wäre sie mehr als nur eine Sünde wert.

Aber sie hat einen Freund und sie ist von ihm schwanger. Und genau damit ist sie tabu für mich.

„Na komm“ sage ich, „wir sollten fahren.“

„Timo, ich werde den Wohnungsschlüssel mit nach Hause nehmen. Falls du noch was brauchen solltest, für die Kinder oder Frau Berger, ruf mich einfach an. Egal wie spät es ist. Ok?“

„Das ist lieb von dir, danke für das Angebot.“ nicke ich.

„Bitte auch, wenn mit den Kindern was sein sollte. Besonders Emma scheint mir ein kleines und ganz liebes Sensibelchen zu sein.“

„Da wirst du recht haben Sandra, vielleicht ist manchmal eine Frau die bessere ‚Ersatzmutti‘.“

„Na dann los ihr Mäuse, wollen wir doch mal sehen, wie es eurer Oma geht.“

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