Träume ich?

Josie

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Träume ich?

Träume ich?

Gero Hard

„Und? Kannst du dir vorstellen, hier zu arbeiten? Noch kannst du 'nein' sagen.“
„Den Teufel werde ich tun! In so einem Büro habe ich noch nie gearbeitet. Und ich denke, das ist die Chance, auf die ich schon immer gehofft habe, um mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich über dein Angebot freue. Am liebsten würde ich dich dafür küssen.“
„Mach doch!“
„Was?“
„Mich Küssen!“
„Aber … ich …, wenn jemand rein kommt.“
„Denk an den Sensor, es kommt niemand herein. Niemand außer dir und mir hat Zugang zu deinem Büro, nicht mal Karo. Mein privates Vermögen und der Erfolg oder Misserfolg der Projekte geht nur dich und mich an. Und ich bin es, der darüber entscheidet, wer, wann, welche Informationen bekommt.“
Schon gestern auf der Terrasse, nachdem er mir das Angebot gemacht hatte, wäre ich ihm am liebsten überglücklich um den Hals gefallen. Natürlich würde ich einen 'normalen' Chef nicht küssen, bloß, weil er mir einen Job gegeben hatte. Aber Chris war alles andere als 'normal', in und bei allem. Ich drückte mich auf meine Zehenspitzen und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange.
Peinlich berührt löste ich mich von ihm und sah auf den Boden. In dem Moment hoffte ich auf die moderne Technik und wünschte mir, von dort weggebeamt zu werden.
Stattdessen fasste er mir unter das Kinn, hob sanft meinen Kopf und küsste mich auf den Mund. Lange, ungeheuer zärtlich und sinnlich. Er ließ mir keine Chance, ihn entrüstet von mir zu drücken. Meine gute Erziehung wollte sich zwar gegen seinen aufdringlichen Angriff wehren, aber es ging nicht. Er hatte mit seinen Lippen meinen Willen auf traumhaft schöne Weise gebrochen.
Ich stand sogar noch mit geschlossenen Augen und gespitzten Lippen da, als er sich schon von mir gelöst hatte. Er grinste mich an, als ich die Augen öffnete.
„Entschuldige den Überfall! Es war nicht richtig.“
Wortlos drehte er sich um und ging aus dem Büro, kam aber nach kurzer Zeit mit drei dicken Aktenordnern zurück.
„Hierin findest du erste Unterlagen zu meinem Vermögen und Versicherungen. Mach dich mit ihnen vertraut und verschaffe dir einen ersten Überblick. Wenn du Fragen hast, schreib sie dir auf, und dann treffen wir uns um vier wieder hier.“
Er gönnte mir noch einen letzten Blick, dann war ich allein und die eben noch glasklaren Scheiben wurden milchig trüb.
Mein Telefon klingelte. 'Karo' stand auf dem Display.
„Wiielst du noch Kaffää, Frau Schäferr? Ich bringe, musst nur saggen.“
Sie gab sich bestimmt Mühe möglichst ohne Akzent zu sprechen, dennoch gelang ihr das nicht. Mich störte es nicht. Es klang sogar ein wenig lustig und ich fand nett, dass sie mich gefragt hatte.
„Aber nur, wenn es keine Umstände macht und du mich ab sofort Josie nennst.“
„Gechört sich nicht bei Freundin von Scheff.“
„Ich bin nicht die Freundin vom Chef.“
„Niiecht? Und warum duzt du?“
„Weil ich mit ihm zusammen zur Schule gegangen bin.“
„Ach soooo, weche du machst unglücklich, dann wir chaben Streit.“
„Keine Sorge Karo, das passiert nicht.“
„Weißt du, chabe ich in seine Auge gesechen. Er mag dich.“
„Immer noch? Er hat mir gestern gesagt, dass er in der Schule in mich verknallt war.“
„Iist noch immer so, ich weiß… bringe gleich Kaffää.“
Sie hatte sich gemerkt, wie ich ihn trinke. Er war perfekt und ganz besonders aufmerksam war der kleine Keks, der auf
der Untertasse lag. Ich mochte diese Frau sofort. Ihre offene, ehrliche Art gefiel mir. Rührend, wie sie sich um Chris Sorgen machte. Bei ihm Zuhause übernahm Franziska ganz nebenbei die Rolle der Aufpasserin, hier war es Karo.

****

So in die Akten vertieft, hatte ich nicht bemerkt, dass es bereits kurz nach vier war. Leicht erschrocken zuckte ich zusammen, als das Milchglas wieder klar wurde und Chris in mein Büro kam. Die Zeit war unbemerkt an mir vorbeigerauscht.
„Und? Was denkst du?“
„Ich bin noch nicht durch damit.“
„Das war mir klar. Es hätte mich auch gewundert, in der kurzen Zeit.“
„Ich denke, es liegt noch viel Arbeit vor mir.“
„Du willst weitermachen? Dich hat das nicht abgeschreckt?“
„Nein, hat es nicht. Ich werde auf jeden Fall weitermachen.“
****
Überhaupt war die erste Woche besonders kurz, weil ich auf einem Mittwoch angefangen war. Chris hatte seine Akten bezüglich seines Vermögens in mein Büro bringen lassen und ließ mich weitestgehend in Ruhe arbeiten. Nur manchmal steckte er seinen Kopf durch den Türspalt und lächelte mich an.
„Und läuft alles, oder hast du Fragen?“
Meistens verschwand er sofort wieder, wenn ich überzeugend den Kopf schüttelte. Nur gelegentlich nahm er sich die Zeit, setzte sich neben mich und linste über meine Schulter. Seine Nähe war mir nicht unangenehm, er roch immer so entsetzlich gut, erkundigte sich oft danach, wie es mir ging, war immer nett, erfüllte mir jeden noch so ausgefallenen Wunsch, wenn es um das Büro und meine Arbeit ging. Überhaupt war er sehr aufmerksam.
Wenn ich wieder mal die Mittagspause durchmachte, brachte er was vom Chinesen mit, oder von dem Laden mit dem großen 'M'.
Wenn er neben mir saß, zeigte er echtes Interesse an meiner Arbeit. Nicht geheuchelt, wie es manche Abteilungsleiter gern taten, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Chris fragte mich, wenn er durch meine Excel-Aufstellungen nicht durchstieg, oder der Meinung war, ich hätte was übersehen.
Ich bemerkte bald, dass sein Grad zwischen beruflichem Interesse und flirten, ein schmaler war. Vielleicht hat nicht jede Frau eine Antenne dafür, ich hatte sie. Und ich beschloss sie zu nutzen. Warum sollte ich mich nicht auf sein Spiel einlassen. Ich wollte ja nicht gleich mit ihm ins Bett gehen, aber ein bissen ärgern, necken, oder ein wenig Ironie wird doch wohl erlaubt sein ... oder?

****

Es war Dienstag der zweiten Woche, als Chris mich wieder mal in meinem Büro überraschte.
„Mach Feierabend!“, befahl er freundlich lächelnd.
„Was? Wieso, ich hab aber noch …!“, stotterte ich perplex.
„… Keine Widerrede! Rechner aus und mitkommen.“, fiel er mir ins Wort.
Er wartete gar nicht erst ab, bis ich mir die leichte Jacke übergeworfen hatte, sondern zog mich wie eine Puppe hinter sich her.
Mit dem Fahrstuhl rauschten wir durch bis ins Parkhaus. Seine Schritte waren trotz seiner Einschränkung in der Hüfte lang und schnell, so dass ich Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen. Da er aber noch immer meine Hand hielt, musste ich fast laufen, was in meinem engen Rock nicht ganz so einfach war.
Dann riss er die Tür eines irre flachen Sportwagens auf und schob mich auf den Beifahrersitz, in den ich mich tief hineinfallen lassen musste. Scharfes Teil, das, kaum aus dem Parkhaus herausgelassen, abging wie eine Rakete.
Nur die Schalen der Sportsitze verhinderten, dass ich in den Kurven wie ein Ball im Auto herumgeschleudert wurde.
„Chris, könntest du bitte etwas …, oh mein Gott …! Chris bitte … mach langsamer! Ich glaub mir wird …“
„Schlecht? Sind gleich da. Wir haben einen Termin. Wird eh schon knapp.“
„Mit wem denn?“
„Mit mir.“, lachte er.
Scharf stieg er vor einem Apartmenthaus in die Bremse, so dass der Gurt scharf in meine rechte Brust schnitt. Schnell kam er um das Auto herum und reichte mir galant die Hand, damit ich aus dem tiefen Sitz aufstehen konnte.
„Was machen wir hier?“, fragte ich ihn neugierig.
„Lass dich überraschen. Komm!“, kommentierte er kurz und zog mich, wie schon im Parkhaus, erstaunlich schnell mit sich.
Wir fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock. Alles roch nach frischer Farbe und war blitzsauber. Ungewöhnlich sauber, für ein gewöhnliches Mehrfamilienhaus, in dem sich normalerweise die Parteien um den Treppenhausdienst stritten, oder ihn einfach nicht machten.
Auf dem Gang kramte er in seiner Hosentasche und beförderte ein Schlüsselbund ans Tageslicht. Mich wunderte bei
diesem Kerl gar nichts mehr. Auch nicht, dass einer dieser Schlüssel zu einer Tür auf dem Flur passte. Eine Tageslicht durchflutete, leere Wohnung tat sich vor mir auf.
„Sieh dich um!“, bestimmte er. „Lass dir Zeit, sieh dir alles genau an.“
Alles war mit wunderschönem, hochwertigen Parkett ausgelegt. Das Bad in schwarz-weiß gefliest, mit einem
Waschbecken, das wie eine Schüssel auf einem Schränkchen aussah. Topmoderne Armaturen, eine Duschkabine aus Echtglas, einfach traumhaft.
Die Küche, mit einer Kochinsel ausgestattet, einem Dampfgarer, einem Induktionsherd und einem amerikanischen Gefrierschrank, der sogar Eiswürfel machen konnte. Die Krönung waren das Wohn- und das Schlafzimmer, mit dem Balkon, der beide Zimmer von außen verband. Die ganze Wohnung natürlich klimatisiert, was auch sonst, außerdem noch mit einem Frischluftsystem ausgestattet.
„Was soll das, Chris, warum zeigst du mir diesen Traum?“
„Weil er dir gehören könnte. Du müsstest nur noch 'ja' sagen.“
„Wie jetzt … mir gehören …? Was meinst du?“
„Zur Miete natürlich. Die Wohnung gehört, wie das ganze Haus hier, mir. Ich nutze diese Wohnungen für wichtige Gäste aus der Politik, der Industrie oder Praktikanten aus der ganzen Welt. Dieses Penthouse ist zufällig gerade frei. Willst du?“
„Chris, das kann ich mir unmöglich leisten!“
„Doch du kannst! Ich weiß das, weil ich der Vermieter bin. Und wenn ich wollte, könntest du hier sogar kostenlos wohnen und es dürfte niemanden außer uns beiden interessieren.“
„Du bist verrückt, weißt du das?“
„Josie, da bist du nicht die erste, die das sagt! Also was ist, willst du?“
„Das fragst du noch? Aber sowas von …!“
Ich rannte die letzten fünf Schritte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Es war ein magischer Moment. Ich konnte nicht anders, ich musste es tun. Dieser Mann hatte mich nun schon wieder gerettet. Seine Arme schlossen sich hinter meinem Rücken und ich spürte, wie seine Umarmung immer fester wurde. Zur Strafe musste ich ihn küssen. Meine Hände legten sich an seine Wangen und zogen sein Gesicht mit sanftem Zwang gegen meine Lippen, die diesen Moment zu einem Unvergesslichen werden ließen.
Als wir uns lösten, sahen wir uns noch lange an. Die Magie des Augenblickes war noch nicht zu Ende. Unsere Augen suchten gegenseitig in den Augen des anderes nach etwas, was ich nicht beschreiben konnte. Eine Regung, ein Gefühl, einen Hinweis … ich wusste es nicht. Nur, dass es mir fast den Boden unter den Füßen weggezogen hätte, das wusste ich.
„Du Chris, kann ich dich was fragen?“ 
„Klar, alles!“
„Warum tust du das, und wer ist Falk?“
„Das sind aber schon zwei Fragen. Ok, hast du heute noch was vor?“
„Ne, eigentlich nicht, warum?“
„Dann fahren wir jetzt zu mir, da beantworte ich deine Fragen, ok? Und ganz nebenbei essen wir was, ich hab einen Bärenhunger.“
„Aber mein Auto steht noch in der Firma.“
„Macht nichts. Entweder wir holen es später, oder ich bring dich nach Hause und hol dich morgen früh wieder ab.“
„Was sollen die Kollegen denken?“
„Das ist mir egal!“
„Mir aber nicht. Ich muss schließlich mit ihnen auskommen.“
Er ließ das unkommentiert, drückte mir anstelle dessen das Schlüsselbund in die Hand und zog mich wieder mit sich.
Franziska erwartete uns schon. Sie hatte den Tisch auf der Terrasse gedeckt und das Essen lange warm gehalten. Mit einem Blick erfasste ich vier Gedecke, was mich doch sehr aus dem Konzept brachte.
Chris drückte mich in einen der Rattan-Sessel und setzte sich in den daneben.
„Josi, zu deiner ersten Frage: Ich sagte dir bereits, dass ich dich schon in der Schule mochte, mich aber nicht getraut habe, dich anzusprechen. Du weißt warum. Du warst damals schon die Schönste in der Klasse und ich möchte wetten, dass das heute noch mehr zutrifft, als damals schon. Als ich dich dann so elendig auf der Parkbank gesehen habe, hat es mir das Herz zerrissen. Und ich mag es nicht, wenn es Menschen, die ich mag, schlecht geht. Dazu geht es mir zu gut. Ich habe von allem zuviel und es schmerzt mich, wenn andere zu wenig haben. Beantwortet das deine Frage?“
„Das soll heißen, du magst mich immer noch?“
„Nicht ganz, ich glaube, es ist sogar noch schlimmer geworden.“
„Du liebst mich? Aber du kennst mich doch kaum! Chris, es ist so viel Zeit seit der Schulzeit vergangen. Wir haben uns
verändert, haben unsere Erfahrungen gemacht, sind reifer geworden. Ich mochte dich damals ja auch, aber Liebe? Das war’s dann doch nicht, wenn ich ehrlich bin.“
„Erfahrungen …? Der Dreier zum Beispiel? Aber ich verstehe dich. Es ist ok.“
„Hallo Papa!“
Der freudige Ausruf gehörte zu einem kleinen Kind, das mit einem lauten Lachen auf die Terrasse gelaufen kam, auf den Schoß von Chris kletterte und sich an seinen Hals klammerte. Chris küsste ihn sofort auf die Stirn und wuschelte die Haare des kleinen Jungen.

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