Ohne auf weitere Anweisungen und Erklärungen zu warten, hatte Kapitän Ruckstuhl bereits vor dem dritten „go-around“ den „TO/GA“ Taster betätigt und mit dem Prozedere für das Durchstartmanöver begonnen. Genau auf diese Handlung hatte Olivia gewartet, nachdem durch die Co-Pilotin das „go-around“ befohlen worden ist.
„Fahrwerk?“, fragte der Pilot.
„Wir haben keine Rückmeldung mehr von der Fahrwerksverriegelung“, bekam er von Laëtitia zur Antwort.
Während sich Kapitän Ruckstuhl weiter um das Durchstartmanöver kümmerte, war seine Co-Pilotin bereits dabei, den Tower über den Grund des Durchstartens zu informieren.
Nach weiteren fünfzehn Minuten gab Olivia mit einem Nicken die Zustimmung, dass diese Flugsequenz beendet werden konnte. Mit einem erneuten, diesmal problemlosen Landeanflug und anschließenden Rollmanöver zur „parking position“, wurde die Simulatorübung abgeschlossen.
Olivia fand die Leistung der auditierten Crew sehr gut und sie konnten zum Debriefing übergehen. Erleichterung machte sich im Team breit und sie waren alle froh, das Assessment mit positiven Rückmeldungen an die Crew beenden zu können.
Beim anschließenden Debriefing wurden alle Ergebnisse nochmals besprochen. Olivia nutzte die Gelegenheit und bedankte sich bei den Piloten und beim Auditteam, dass sie dieses Assessment begleiten durfte.
„Ach Frau Andersson, eine Pilotin mit ihren Qualifikationen, da kann doch nichts schief gehen“, meinte Konrad Müller daraufhin schmunzelnd. „Sogar wir in der kleinen Schweiz haben von der Story mit der A350 und den kaputten Reifen gehört.“
Die Aussage des Teamleiters ging Olivia natürlich „wie Öl den Hals runter“ und sie spürte trotzdem eine leichte Verlegenheitsröte aufsteigen. Sie hatte innerhalb der Airline und scheinbar jetzt auch hier bei der Tochtergesellschaft einen gewissen Ruhm mit ihrer Landung erlangt.
Rufname „BAMBINA“
„Darf ich mich zu ihnen setzen?“ fragt Olivia und deutete auf den leeren Sitzplatz neben Laëtitia Bischoff. Die Angesprochene sah auf und deutete nickend auf den Platz neben ihr. Nach einem Blick auf das Namensschild an Olivias Uniformjacke meinte sie: „Sie waren doch die PIC von Flug LH425, die 350er mit den defekten Reifen, oder …? Diese Landung war schon eine Glanzleistung.“
„Ja, das war es und noch viel Glück dazu“, antwortete Olivia mit einem gewissen Stolz. „Wir hatten heute Morgen beim Briefing gar keine Zeit, uns richtig bekanntzumachen. Olivia Andersson ist mein Name. Kapitänin auf der A350, Testpilotin auf diesem Baumuster und in München beheimatet.“
„Freut mich. Ich bin Laëtitia Bischoff, Senior First Officer und mein ‚Stall‘ ist momentan noch hier in Zürich Kloten“, meinte Bischoff und streckte Olivia ihre Hand hin. „Aber sie können mich duzen und ‚Angie‘ zu mir sagen.“
Olivia nahm die dargebotene Hand und wieder hatte sie beim Berühren der Hand dieses erregende Kribbeln. Das gleiche Gefühl hatte sie schon bei der kurzen Begrüßung vor dem Briefing verspürt. Aber auch bei Angie Bischoff wurden die Augen für einen kurzen Moment größer und die Mundwinkel zogen sich leicht nach oben.
"Also gut, Angie. Dann nennst du mich aber Olivia, ok?"
Während des Essens unterhielten sich die beiden Frauen weiter über die Fliegerei. Plötzlich fragte Angie: „Was hast du heute Nachmittag noch alles auf dem Programm, Olivia?“
„Ich nehme mal an, dass noch weitere Assessments anstehen“, meinte Olivia. Sie wandte sich an Konrad Müller: „Wie sieht der weitere Nachmittag aus, stehen da noch weitere Checks auf dem Programm?“
Dieser schüttelte den Kopf: „Nein, nein, wir haben für heute alle Checks erledigt. Die nächsten Assessments finden erst in der kommenden Woche statt. Also nochmals vielen Dank für ihre Unterstützung.“
Olivia wirkte leicht irritiert: „Weshalb wurde ich dann für zwei Tag zu euch geschickt? Meine Rückreise ist erst am Sonntag.“
„Dies entzieht sich meiner Kenntnis.“ Er zuckte ein wenig entschuldigend mit den Schultern und meinte daraufhin aber mit einem leichten Schmunzeln, „aber ich denke, Frau Bischoff kann ihnen die Zeit bis Sonntag sicher etwas verkürzen.“
Olivia drehte sich wieder zu Angie: „Du hast es gehört, ich werde hier nicht mehr benötigt.“
„Sehr gut, dann machen wir uns einen spannenden Nachmittag. Ich hätte da schon eine Idee“ gab diese zur Antwort.
„Das hört sich gut an. Eigentlich dachte ich, dass ich hier die beiden Tage bei den Assessments mithelfen soll. Mein Rückflug ist wie gesagt erst am Sonntag …“
„Das hat schon seine Gründe“, fiel Angie ihr ins Wort. Diese Aussage verwirrte Olivia nun erst recht! Mit einem Grinsen im Gesicht fragte Angie: „Bist du schon einmal so richtig durch die Alpen geflogen?“ Dabei betonte sie das Wort „Alpen“ ganz besonders. Ganz leicht strich Angie mit ihren Fingern über den Handrücken von Olivia, was bei ihr wieder dieses angenehme Kribbeln aufkommen ließ …
*****
„Ist das dein Wagen?“ fragte Olivia erstaunt und deutete auf den orange-roten Oldtimer, vor dem sie standen.
Angie nickte und strahlte vor Stolz: „Ja, das ist mein Bijou, ein komplett restaurierter 1957er Chevrolet 3200 Pick-up. Frau gönnt sich ja sonst nichts“, meinte sie grinsend. „Komm steig ein!“
Mit dem Bijou von Angie fuhren sie gemütlich vom Ausbildungscenter Balsberg weg. Nach einer fünfzehnminütigen Fahrt bog Angie links ab und stellte ihren Wagen vor einem Gebäude ab, welches mit „Air Force Center“ angeschrieben war. Neben dem Eingang thronte ein rot-weißes Kampfflugzeug auf einem Sockel und verdeutlichte, um welches Thema es in den Gebäuden vermutlich ging.
„Was wollen wir eigentlich hier?“ fragte Olivia beim Aussteigen.
„Lass dich überraschen“, meinte Angie mit einem Grinsen und nahm Olivia an der Hand.
Schon wieder war das erregende Kribbeln in der Hand da, welches sie jetzt schon zum dritten Mal verspürte. Leicht verwirrt schaute sie Angie in die Augen, welche mit leicht verträumtem Blick ihrerseits Olivia betrachtete. Sie drückte nochmals leicht die Hand von Olivia und zog sie dann mit sich in Richtung des Eingangs. Während sich Olivia im Eingangsbereich noch umsah, ging Angie auf direktem Weg zum Informationstresen.
Die beiden Frauen fielen in ihren Uniformen unter all den normal gekleideten Leuten ein wenig auf. Gerade die vier Streifen an den Ärmeln von Olivias Jacke stellten schon etwas Besonderes dar. Sie hörte nur nebenbei, wie Angie die Frau am Tresen fragte: „Ciao Barbara. Ist Stephan schon da?“
„Oh, hallo Angie. Ja, er erwartet euch“, gab die Angesprochene zur Antwort. „Du kennst ja den Weg.“
„Danke Barbara.“ Sie drehte sich zu Olivia um, „kommst du? Wir haben noch eine Verabredung mit einem anderen Simulator.“
Olivia verstand kein Wort von dem, was Angie da gerade gesagt hatte … Einem anderen Simulator? Jedenfalls setzte sie sich in Bewegung und folgte Angie durch die verschiedenen Hallen, wo Exponate aus den Bereichen Militärgeschichte und Aviatik ausgestellt waren. Olivia folgte ihrer Begleiterin durch die Ausstellung, bis sie vor einer Türe mit der Aufschrift „SIM-Center“ standen.
„Stephan …? Hallo? Bist du da?“ rief Angie durch die offene Türe.
„Hoi Angie, komm rein. Barbara hat gemeldet, dass du im Anflug bist“, gab der Angesprochene zurück.
Zusammen mit Angie betrat Olivia den großen Raum. Staunend drehte sie sich einmal um ihre Achse und betrachtete die Einrichtung. Hier standen verschiedene Cockpit-Mockups von zivilen und militärischen Flugzeugen.
Ein Mann trat zu beiden Frauen, gab Angie die Hand und fragte sie lachend: „Ist das deine neue Freundin?“
„Nicht das ich wüsste“, gab sie grinsend zur Antwort und drehte sich zu Olivia um, welche mit erstauntem Blick zwischen den beiden hin und her schaute. „Das ist Olivia Andersson, eine deutsche Kollegin und Kapitänin auf der Airbus A350. Und siehst du, sie hat einen Streifen mehr auf dem Ärmel als ich“ und hielt dabei Olivias rechten Arm vor Stephans Gesicht.
Der Angesprochene schüttelte lachend den Kopf. „Ich sehe schon … Karrierefrauen unter sich.“
Angie schlug ihm beleidigt mit der Faust auf den linken Oberarm, musste dann aber ebenfalls herzlich lachen und meinte zu Olivia: „Nimm die Sprüche dieses Typen hier nicht allzu ernst, aber als Betreuer der Simulatoren ist er ganz brauchbar.“
„Ja ja, schon gut, ich habe es begriffen“, schmunzelte er. „Für die ‚Heldinnen der Lüfte‘ ist wie gewünscht der 18er vorbereitet.“
„Stephan, du bist ein Schatz, aber nicht meiner“, grinste Angie mit einem Augenzwinkern und an Olivia gewandt sprach sie weiter: „Komm, wir gehen uns umziehen. Für unser Vorhaben brauchen wir etwas Passenderes als diese Uniformen.“
Jetzt war bei Olivia endgültige Ratlosigkeit angesagt. Sie packte Laëtitia Bischoff am Arm und drehte sie zu sich herum: „Erklär mir mal, was das Ganze hier soll. Ich komme mir irgendwie verschaukelt vor. Eigentlich bin ich doch hier, um zu arbeiten, also lass mich bitte nicht dumm sterben …!“
„Also gut, komm mit.“ Sie gingen in einen Nebenraum, welcher scheinbar auch als Garderobe diente. Angie setzte sich auf eine Bank, welche zwischen den Garderobenspinden stand und bedeutete Olivia sich ebenfalls zu setzen. „Ich habe mir schon gedacht, dass du ein gewieftes Kind bist. Nun gut … Du hast dir bei deinen Vorgesetzten scheinbar eine ganze Menge Respekt verschafft. Deshalb hat unsere Chefetage vor ein paar Wochen eine Anfrage erhalten, ob wir einer außergewöhnlichen Pilotin ein einmaliges Erlebnis bieten können. Meine Vorgesetzten haben dann beschlossen, dass ich für dich ein Programm zusammenstellen und dich während diesen zwei Tagen auch begleiten soll. Also habe ich ein paar Sachen organisiert und damit das Ganze einen offiziellen Anstrich bekommt, haben wir die Geschichte mit dem Assessment eingebaut. Die große Überraschung kommt dann morgen, aber dazu verrate ich dir nichts. Nun lass uns den Nachmittag genießen.“
Mit diesen Worten stand sie wieder auf, öffnete einen Spind und nahm eine „Armeegrüne“ Sporttasche heraus und drückte sie Olivia in die Hand. „In der Tasche hat es für das Kommende etwas Passendes zum Anziehen. Dort drüben kannst du dich umkleiden“ und deutete mit der Hand zu den Umkleidekabinen.
Erstaunt und sprachlos über das Gehörte nahm Olivia die Tasche entgegen und ging in die angezeigte Richtung. Nachdem sie die Kabinentüre hinter sich geschlossen hatte, musste sie sich zuerst auf den vorhandenen Stuhl setzen. Was hatte Angie alles gesagt? Außergewöhnliche Pilotin, einmaliges Erlebnis … aber sie hatte den Auftrag nach Zürich zu fliegen doch von ihrem Vorgesetzten erhalten. Hatte Herr Zeller bei dieser „Intrige“ etwa seine Finger auch im Spiel? Was wird hier gespielt und es gibt noch eine große Überraschung?
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