Es war noch nicht richtig hell im Zimmer, als Regina sich aus dem Bett stahl und ihre Sachen zusammensuchte, die kreuz und quer über den Fussboden verstreut waren. Leise schlüpfte sie in die Wäsche, das T-Shirt und die Jeans. Als sie den Reissverschluss zuzog, hörte sie vom Bett ein verschlafenes Stöhnen, und die Bettdecke bewegte sich. Sie erstarrte einen Moment, dann schnappte sie sich ihre Jacke und stürmte aus der Wohnung. Die Tür fiel geräuschvoll hinter ihr ins Schloss.
Unten auf der Strasse blieb sie erst einmal stehen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ihr Mann Bernd war für ein paar Tage mit Freunden weggefahren und hatte das Auto mitgenommen. Mit dem Taxi würde es unverschämt teuer werden. Also blieb nur noch der Vorortezug.
Die Sonne ging gerade auf, als sie den Bahnhof erreichte. Der erste Zug kam zum Glück in wenigen Minuten. Sie liess sich auf einen Fensterplatz im leeren Abteil fallen und starrte hinaus.
Eigentlich hatte sie es gar nicht geplant, sie wollte einfach nicht länger allein zu Hause sitzen, sondern noch was trinken gehen und sich ein wenig unterhalten, und dann war alles ganz anders gekommen. Nie hätte sie sich für fähig gehalten, ihren Mann zu betrügen. Schön, es stand mit ihrem Sexleben nicht zum Besten, aber dafür waren sie die besten Freunde, teilten sich die Pflichten und Freuden des Alltags und konnten unbedingt aufeinander zählen. Ihr Leben war wohlgeordnet und friedvoll. Und das hielt sie bisher auf Dauer für das Wichtigste.
Regina drückte die Stirn an die kalte Glasscheibe und seufzte leise, als sie an die letzte Nacht dachte. Sie hatte vorher gar nicht gewusst, an welchen Stellen sie überall erregbar war, und auch nicht, dass sie mehr als einen Orgasmus haben konnte. Schmerzlich schloss sie die Augen. Nein, sie würde kein Wort davon zu ihm sagen. Sie würde alles schleunigst vergessen und zurückkehren zu ihrem gleichförmigen Leben, ihren vorgetäuschten Höhepunkten und den Ersatzhandlungen unter der Dusche. War doch auch die letzten drei Jahre so gegangen. Und das gar nicht mal schlecht.
Der Zug ratterte durch die erwachenden Dörfer, und es war an der Zeit für sie, auszusteigen.
Sie fischte in ihrer Hosentasche nach dem Schlüssel und stutzte. Ihre Hand fühlte nichts als den Stoff. Dafür förderte sie in der anderen Tasche ein Feuerzeug zutage, das nicht ihr gehörte.
Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor den Augen. Es waren nicht ihre Jeans.
Nicht nur, dass sie annähernd die gleiche Figur hatten - Regina war gross und muskulös -, sondern sie trugen auch beide an diesem Abend ausgerechnet schwarze Jeans der selben Marke. "So viele Gemeinsamkeiten können doch kein Zufall sein", hatte Alex ihr in der Wohnung noch ins Ohr geflüstert, bevor sie sich leidenschaftlich geküsst hatten.
Was gab es zu ihrer Entschuldigung vorzubringen? Sie war ausgehungert. Aber so ging es vielen ihrer Freundinnen, und die hatten sich doch auch irgendwie damit arrangiert, das zählte also nicht. Der regelmässige Sport brachte Regina zwar Ablenkung und verbrauchte ein wenig ihrer überschüssigen Energien, aber tief in ihrem Körper schrie es nach Erfüllung. Die hatte sie gestern abend bekommen. Reichlich.
Sie überlegte. Bernd war nicht vor morgen zurückzuerwarten, und auf seinem Rafting- und Zelttrip war er telefonisch nicht erreichbar. Der Ersatzschlüssel lag in der Wohnung. Ausserdem hatte sie noch ihr Bargeld und die Kreditkarten in der anderen Hosentasche.
Es half nichts. Sie musste zurück.
Auf den Gegenzug wartete sie eine Viertelstunde. Und während sie sich auf der Rückfahrt noch eine Ausrede zu ihrem plötzlichen Verschwinden überlegte, die sie Alex vorsetzen konnte, stand ein Kontrolleur vor ihr: "Ihre Fahrkarte bitte!"
"Ich hab keine", sagte Regina leise und senkte die Augen. Mist! Musste denn alles zusammen kommen!
"Dann bitte Ihren Ausweis!"
Eine Träne löste sich aus Reginas Wimpern, als sie stammelte: "Ich hab ihn nicht bei mir!"
"Dann muss ich Sie ersuchen, an der nächsten Station mit mir auszusteigen." Der Mann war Derartiges wohl gewohnt, er war nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt. Regina schlich neben ihm hinaus.
Er tippte eine Nummer in sein Funktelefon und schnarrte ein paar Worte, während ihre Gedanken sich überschlugen.
"Können Sie mir jemanden nennen, der über Sie Auskunft geben kann? Ihre Eltern? Ihren Mann vielleicht?"
"Nein, mein Mann ist... warten Sie... doch, vielleicht, ja... dürfte ich bitte mal telefonieren?" Sie sah ihn bittend an, und er reichte ihr das Telefon. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer. Obwohl sie den Zettel weggeworfen hatte, wusste sie sie noch, denn es war genau ihr Geburtsdatum: 31 07 68.
Trotz der frühen Stunde tutete es nur zwei Mal, bevor die warme Stimme an ihrem Ohr "Hallo?" sagte.
"Alex, ich bin's", sagte sie. "Meine Jeans liegen noch bei dir, mein Geld und meine Schlüssel und mein Ausweis sind drin, und jetzt bin ich grad beim Schwarzfahren erwischt worden."
Stille. Das Gelächter, das darauf folgte, wollte schier nicht enden.
"Hey Kleines, sieht so aus, als ob du ganz schön in der Scheisse sitzt, was? Ok, ich fliege zu dir. Wo bist du denn?"
"Jetzt grade am Bahnsteig in Otmarshausen..." setzte Regina an, der Kontrolleur unterbrach sie: "Ich bringe Sie erst mal zur örtlichen Polizeiwachstube." "Und demnächst also auf der Polizei hier im Dorf", beendete sie schwach.
Es klickte in der Leitung und tutete.
"Jemand kommt mich abholen", sagte Regina. Ich hoffe es wenigstens.
Die Polizisten waren keine Unmenschen. Sie brühten sogar frischen Kaffee für sie auf, und Regina klammerte sich an die Tasse, während das Protokoll aufgenommen wurde. "Da noch kein Vergehen dieser Art gegen Sie vorliegt, belassen wir es bei einer Geldstrafe", sagte der Polizist. "Ich hoffe, Sie lassen sich das eine Lehre sein."
Regina nickte nur und fragte dann schüchtern nach der Toilette. Während sie sich die Hände wusch, hörte sie von draussen Wortfetzen: "... noch hier... Geldstrafe... können sie mitnehmen..."
Alex war tatsächlich gekommen! Sie spähte hinaus und sah im Halbschatten die hohe, schlanke Gestalt, die sich mit dem Polizisten unterhielt.
Ihre Blicke begegneten sich über den Flur.
"Sie können gehen", sagte der Polizist. "Es ist alles geregelt."
Sie starrte Alex stumm eine Weile an, bevor sie aufeinander zugingen und sich in die Arme fielen. Die weichen Lippen wanderten über ihr Gesicht, vergruben sich an ihrem Hals. Die Polizisten gafften. Es war ihr egal.
"Du dummes, schlimmes Mädchen", flüsterte Alex heiser, hielt ihr Gesicht mit den Händen fest und küsste sie wieder und wieder. "Einfach weglaufen, und dann so nen Quatsch machen! Jetzt zieh mal deine Sachen wieder an, und dann gehen wir was trinken!"
Sie griff nach der entgegengestreckten Plastiktüte mit ihren Jeans, verschwand nochmals in der Toilette und zog sich rasch um. Das alte, vertraute Leben schmiegte sich in Gestalt der schwarzen Hosen an ihre Beine und brachte sie wieder zu Bewusstsein.
Sie verliessen mit ineinander verflochtenen Fingern die Wachstube. "Am Bahnhof ist ein Bäcker, der hat jetzt schon auf", sagte Alex, "und dann können wir noch bei mir gemütlich frühstücken." Ein lustvoller Blick streifte sie.
Regina blieb abrupt stehen. "Hör zu", sagte sie leise, "ich kann dir gar nicht genug danken für das, was du vorhin für mich getan hast. Aber sieh mal, ich bin verheiratet, und ich liebe meinen Mann. Ich wollt's dir eigentlich nicht sagen, ich wollte das alles ganz schnell vergessen, aber ich denke, du musst das wissen. Alex, bitte..."
"Ach. Ich war für dich nicht mehr als ein Abenteuer, hm? Hab mir schon so was gedacht, als du heute morgen einfach weg warst. Aber meine Telefonnummer hast du trotzdem noch gewusst? Interessant. Vielleicht fällt sie dir ja wieder ein, wenn du noch mal Lust auf- Abwechslung hast!"
Die Stimme klang bitter, und ehe Regina es verhindern konnte, hatte Alex sich umgedreht und war einfach gegangen. Sie streckte die Hand aus, liess sie aber dann wieder sinken. Nein, es hatte keinen Sinn, es würde höchstens alles nur noch schlimmer machen.
Sie schluckte an dem Knäuel in ihrem Hals, ging zurück zum Bahnhof und suchte ihr Kleingeld zusammen. Es reichte gerade für den Fahrschein.
Als sie wieder zu Hause war, schnippelte sie erst mal eine überreife Banane in den Mixbecher, schlug ein Ei darüber, gab einen Löffel Kakaopulver und ein Säckchen Vanillezucker dazu, übergoss alles mit Milch und pürierte es lange und gründlich. Dann trank sie in kleinen Schlucken ihr Frühstück. Bernd ekelte sich davor, wenn sie sich Flüssignahrung zubereitete, weswegen sie ihm zuliebe damit aufgehört hatte. Aber jetzt war es genau das, was sie brauchte.
Anschliessend ging sie ziellos durch die Wohnung, rückte einige Bilder gerade, goss einige Zimmerpflanzen, hörte Musik, versuchte zu lesen. Ihre Gedanken drehten sich um Alex, Alex, und wieder Alex. Diese Nacht hatte ihr eine neue Welt eröffnet, ihr den Boden unter den Füssen weggerissen und sie nach Luft schnappend in einem endlosen Ozean zurückgelassen.
Sie legte sich auf das Ehebett. Ihre Hände streichelten auf der Kleidung über ihren Körper, auf den Spuren aller Zärtlichkeiten, die noch auf der Haut brannten, schlüpften in die Jeans, ahmten die Bewegungen der erfahrenen, geschickten Finger nach. Sie stöhnte und schluchzte, als es ihr kam. Tränen liefen über ihre Wangen, und sie rollte sich zusammen. Bernd war nie so gewesen und würde niemals so sein.
Regina schreckte auf, als sie den Schlüssel im Türschloss hörte. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass sie einige Stunden lang geschlafen haben musste. Schon stand er im Schlafzimmer, beladen mit Campingutensilien, unrasiert, braungebrannt, und strahlte sie an. "Ich dachte, ich komme ein bisschen früher nach Hause, ich hatte Sehnsucht nach dir. Hallo, mein Mäuslein!"
Sie kam ihm entgegen, in seine geöffneten Arme, und atmete den vertrauten Geruch seiner Haut. "Ich hab mich gerade ein bisschen hingelegt. Schön, dass du wieder da bist!"
Während sie ihm beim Auspacken half, seine Schmutzwäsche sortierte und die Campingsachen wegräumte, erzählte er gut gelaunt von seinem Kurzurlaub.
Regina hörte nur mit halbem Ohr zu und gab hin und wieder ein "Ach wirklich?" "Klingt ja spannend!", oder "Kann ich mir vorstellen" von sich. Darin hatte sie Übung. Bernd bemerkte ihre Zerstreutheit überhaupt nicht.
Nachdem das Heimkehrchaos weitgehend beseitigt war, ging sie in die Küche, um ein provisorisches Abendessen zuzubereiten. Während sie den Inhalt des Kühlschrankes musterte und überlegte, was sich wohl mit ein paar schrumpeligen Kartoffeln, einem abgelaufenen Joghurt und einem vertrockneten Stück Käse anfangen liesse, trat Bernd hinter sie, umfasste ihre Taille und flüsterte ihr ins Ohr: "Mäuslein, ich bestell uns eine Pizza, damit wir nicht so viel Zeit verlieren. Ich möchte doch unser Wiedersehen ein bisschen feiern!"
Beinahe hätte Regina sich ruckartig umgedreht und "Bloss nicht!" geschrien, aber sie riss sich zusammen, lächelte und sagte: "Das ist wirklich eine gute Idee."
Zur Pizza kippten sie eine Flasche Barolo, und nachdem der Wein leer war, fühlte sie sich angenehm besäuselt. Sie schwebte in so viel wattiger Wärme, dass sie Bernds Zärtlichkeiten ertragen würde.
Übermütig trug er sie zum Bett, zerrte ihr die Kleider vom Körper und küsste sie ungestüm. Sein Atem schmeckte nach Thunfisch und Zwiebeln, und sie wandte den Kopf ab.
"Sag mal, was ist denn das??" Er starrte auf ihren Hals und fuhr mit dem Finger an der Stelle entlang. "Das sieht aus wie Lippenstift! Himmel, das IST Lippenstift!" Bernd sah sie entgeistert an und sagte: "Kannst du mir das erklären?"
Noch während sie nach Worten suchte, stürzten die Tränen aus ihren Augen. Der Schlafmangel der letzten Nacht, der Wein, es war einfach zu viel.
Sie erzählte ihm von ihrer Nacht mit Alexandra.
Zu ihrem Erstaunen reagierte Bernd weit weniger entsetzt, als sie erwartet hatte. Er nahm sie fest in die Arme und murmelte in ihr Haar: "Wenn du mich mit einem Mann betrogen hättest, könnte ich dir das nie verzeihen. Ich würde ihn immer als meinen Konkurrenten betrachten. Aber bei einer Frau muss ich mir ja wohl keine Sorgen machen."
Sie schluchzte noch eine Weile an seiner Schulter, während er über ihr Haar streichelte. Irgendwann war sie wohl eingenickt, denn sie schreckte auf, als sie Bernds fordernde Hände an ihren Brüsten spürte.
Als er merkte, dass sie wach war, presste er sich an sie. Er war erregt und murmelte an ihrem Ohr: "Ich muss die ganze Zeit dran denken, Mäuslein. Ich seh euch beide immer vor mir. Es macht mich verrückt!"
Regina war zu schlaftrunken und immer noch zu beschwipst, um ihn abzuwehren, und schon war er in ihr. Es dauerte keine zwei Minuten, und Bernd warf stöhnend den Kopf zurück, rollte sich auf die Seite und küsste sie.
Sie strich mechanisch über seinen Rücken und hörte bald darauf seine regelmässigen Atemzüge.
Lange Zeit lag sie neben ihm und starrte an die Zimmerdecke. Nach einer Weile befreite sie ihren Arm vorsichtig von seinem Gewicht, stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete ihn lange. Im Dunkeln wirkte sein Gesicht wie gemeisselt, und sie berührte sanft seine Lippen. "Bernd!" flüsterte sie.
Er reagierte nicht. Ihr Mann hatte immer schon einen gesegneten Schlaf gehabt. Auch die warmen Tropfen, die auf seinen Handrücken fielen, nahm er nicht wahr.
Es war noch nicht richtig hell im Zimmer, als Regina sich aus dem Bett stahl und ihre Sachen zusammensuchte, die kreuz und quer über den Fussboden verstreut waren. Leise schlüpfte sie in die Wäsche, das T-Shirt und die Jeans.
Bernd erwachte weder, als sie den Reissverschluss ihrer Jeans zuzog, noch, als sie die Türe hinter sich schloss.
An der Garderobe hing ihr Seesack, in den sie sonst die Einkäufe packte. Sie stopfte ein paar Kleidungsstücke, ihre Tennisschuhe und Bücher hinein, warf ihre Toilettesachen hinterher und verliess die Wohnung.
Die Morgenluft war frisch und klar. Regina atmete ein paar mal tief durch, dann ging sie in das Café am Bahnhof, das einzige in der Stadt, das zu dieser frühen Stunde bereits geöffnet hatte, und bestellte sich einen grossen Espresso. "Wenn's geht, geben Sie mir Münzen zurück", bat sie die Kellnerin und reichte ihr einen Schein.
Mit reichlich Kleingeld in der Hosentasche machte sich Regina auf den Weg. Wohin genau, war ihr selbst noch nicht so recht klar. Eines jedenfalls war sicher: die Fahrscheine waren in nächster Zeit ihr kleinstes Problem.
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