„Ria, wenn du nicht sofort aufstehst, schaffen wir das Pensum nicht, was du dir vorgenommen hast!“
Schlaftrunken richtete Ria sich auf und schaute ihre Mutter entsetzt an: „Mama!“, kam es empört über ihre trockenen Lippen. „Musst du denn immer gleich so rumbrüllen, du hast mich zu Tode erschreckt!“
Sie schlug die Decke beiseite und ließ ihre langen Beine über den Bettenrand baumeln.
Ihre Mutter stand noch in der Tür ihres Zimmers und grinste etwas schadenfroh. „Ich habe dich schon zwei Mal geweckt, aber du drehst dich einfach um und schläfst weiter. Wenn du so weiter machst, kannst du deine neue Wohnung allein renovieren.“ Drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu.
Auf einmal war Ria hellwach, ihre erste, eigene Wohnung wartete darauf ihren persönlichen Schliff zu bekommen.
Natürlich war es schön, im Hotel „Mama“ zu wohnen und sich verwöhnen zu lassen, doch langsam wurde es Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Hinzu kam, dass sie die Miete sparen konnte und sich jetzt mit dem ersparten Geld ihren Traum einer kleinen Eigentumswohnung erfüllen konnte. Ok, die Wohnung, die sie sich jetzt gekauft hatte, war eine renovierungsbedürftige Bruchbude, aber ihr Vater hatte ihr zum Kauf geraten. Er meinte, alles sind nur Oberflächlichkeiten, die mit ein wenig Geschick schnell behoben sein könnten.
Doch das Problem, tauchte eine Woche nachdem sie den Kaufvertrag abgeschlossen hatte, auf!
Ihr Vater, auf dessen Hilfe sie gebaut hatte, wurde ernstlich krank und würde für Wochen oder noch länger, ausfallen.
Ok, tapezieren und die Türen streichen, traute sie sich mit Mutters Hilfe zu, doch es gab noch das Bad und die Küche.
Als sie den Finanzierungskredit aufgenommen hatte, hatte ihr der Bankberater empfohlen, etwas mehr Geld aufzunehmen, um die Renovierungskosten abzudecken.
Ria verdiente in ihrem Job als Modefotografin recht gut, sodass sie die Mehrbelastung stemmen konnte. Da die Kampagne des Herbst- und Winterkatalogs eines großen Versandhauses abgeschlossen war, konnte sie sich etwas freie Zeit nehmen. Kleinere Aufträge würde ihre Agentin, wenn möglich, verschieben! Wichtige Kunden wurden aber erledigt, sie hatte mit dem Umzug ja keine Eile, da sie ja eine sichere Bleibe bei ihren Eltern hatte.
Sie duschte schnell, zog sich ihre Arbeitsklamotten vom Vortag an und ging runter zu ihrer Mutter in die Küche. Es duftete nach frischem Kaffee und auch die Brötchen, die ihre Mutter gerade aus dem Backofen geholt hatte, ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
„Ich habe uns ein paar Brote für den Tag geschmiert, dann können wir heute Abend warm essen!“, teilte ihre Mutter ihr beiläufig mit.
„Mama, das musst du nicht, wir können uns doch was beim Chinamann bestellen oder eine Pizza!“ Versuchte Ria ihre Mutter zu überzeugen, doch das zog bei ihrer Mutter nicht.
„Du weißt, dass ich dieses ungesunde Zeug nicht mag!“
Damit war es für ihre Mutter erledigt und Ria gab auf, es hatte keinen Zweck, sich dagegen aufzulehnen.
-*-
Schwer bepackt kamen sie in der Wohnung an und der muffige Geruch schlug ihnen entgegen. Die Voreigentümerin hatte die Wohnung verkommen lassen und schon jahrelang keine Renovierung veranlasst. Jetzt war sie im Pflegeheim und durch den Verkauf der Wohnung finanzierte sie den Aufenthalt dort.
Spät am Abend fuhren Ria und ihre Mutter nachhause. Obgleich sie gerade mal das Wohnzimmer von der alten Raufasertapete befreit hatten, waren sie fix und fertig.
Rias Mutter stöhnte neben ihr auf dem Beifahrersitz, ein übers andere Mal: „Ria, so schaffen wir das nie und nimmer! Du musst dir Hilfe holen!“
Ria wusste das selbst, dachte dabei aber an ihr zusätzlich aufgenommenes Geld, welches für die Einbauküche und das Bad gedacht war.
Ihre Mutter schwieg schon eine ganze Weile und Ria wusste, dass da gleich ein Vorschlag kommen würde, wie sie an Hilfe kommen könnte und schon platzte ihre Mutter damit raus: „Hast du eigentlich noch Kontakt zu deinem Schulfreund Uli? War der nicht Handwerker? Vielleicht kann der dir unter die Arme greifen, der war doch damals ganz vernarrt in dich! Warum hast du mit dem eigentlichen Schluss gemacht, das war doch so ein netter Junge?“
Ihre Mutter schaute sie von der Seite an, doch da Ria gerade die Auffahrt zum Haus hochfuhr, kam sie vorerst um eine Antwort herum. Wusste aber, dass ihre Mutter nicht lockerlassen würde.
„Ja Uli?“, schoss es ihr durch den Kopf. „Uli war wirklich ein süßer Kerl, aber auch gleichzeitig eine Schlaftablette.“
Während Ria den Wagen parkte und anschließend den Korb mit den Plastikdosen und leeren Flaschen aus dem Kofferraum holte, marschierte ihre Mutter schon zur Tür und grummelte leise vor sich hin.
Als Ria dann in die Küche trat, stand ihre Mutter mit verschränkten Armen vor der Spüle und schaute sie grimmig an: „Würdest du bitte mal meine Frage beantworten?“
„Nein, ich habe keinen Kontakt mehr zu Uli und ich habe mit ihm Schluss gemacht, weil er ein Langweiler war!“
„Dann solltest du den Kontakt mal wieder herstellen! Menschen können sich ändern, vielleicht ist er heute ganz anders. Ihr wart beide noch sehr jung und unerfahren, nur weil er dir nicht gleich an die Wäsche gegangen ist, muss er doch keine Schlaftablette sein.“, sagte ihre Mutter mit einem entrüsteten Unterton in der Stimme.
Ria schüttelte leicht den Kopf, ging aber nicht weiter auf die Äußerungen ihrer Mutter ein.
„Ich gehe erst mal unter die Dusche!“ Und entging so jeder weiteren Ermahnung ihrer Mutter. Im Grunde hatte sie recht, ohne Hilfe würde sie es nicht packen, wo ihr Vater jetzt ausgefallen war.
Während sie duschte, ging ihr Uli nicht mehr aus dem Kopf. Sie war damals, es war immerhin schon über sechs Jahre her, richtig verliebt in ihn gewesen und er sicherlich auch. Nur war er derart schüchtern, dass es zu keinen Zärtlichkeiten gekommen war. Lediglich glühende Liebesbriefe hatte er ihr geschrieben. Für Ria war das, mit der erwachenden Sexualität, einfach zu wenig. Sie wollte geküsst werden und auch Sex haben, wozu Uli einfach noch nicht bereit war oder sich nicht traute.
Als sie dann Bertram kennen lernte, der sie schon nach einer Woche im Bett hatte und sie entjungferte, fühlte sie sich zum ersten Mal als Frau.
Für Uli brach eine Welt zusammen, als sie ihm mitteilte, dass sie jemand anderen lieben würde. Von da an hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Die vorgeschobene Liebe zu Bertram, löste sich schon zwei Wochen später in Luft auf. Er wollte sie nur ficken und hatte sonst nur seinen Fußball im Kopf. Seitdem hatte Ria nur noch eine kurze Liebschaft gehabt und es schließlich vorerst ganz aufgegeben, da ihr Studium zur Gepr. Fotodesignerin sie enorm forderte. Erst nach dem Abschluss öffnete sie sich wieder, doch die Männer in ihrem Umfeld passten einfach nicht.
Als Ria nach dem Duschen in ihrem Zimmer ihr altes Telefonbuch durchblätterte und nach Ulis Telefonnummer suchte, wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie ihn schon lange vermisst hatte.
Mit zitternden Fingern drückte sie die Tasten ihres Handys und wartete auf das Freizeichen, doch zu ihrer Überraschung kam die Durchsage: „Kein Anschluss unter dieser Nummer!“
Enttäuschung machte sich in ihr breit, wie sollte sie Uli jetzt finden?
Doch dann fiel ihr ein, wo seine Eltern wohnten!
Nachdem sie am Sonntag noch zusammen mit ihrer Mutter das zukünftige Schlafzimmer von der Tapete befreit hatte, da es sich hier nur um eine Tapete und keine Raufaser handelte, hatten sie es bis Mittag erledigt und danach Feierabend gemacht.
-*-
Am Montag, Ria näherte sich dem Reihenhaus, in dem die Eltern von Uli gewohnt hatten. Inständig hoffte sie das die Eltern dort noch sein würden, sonst hatte sie keinen weiteren Anhaltspunkt, wo sie Uli suchen sollte. Gerade beugte sie sich zum Klingelschild runter, um den Namen lesen zu können, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.
„Ria bist du das?“, fragte eine ihr sehr vertraute Stimme.
Plötzlich wurde sie von zwei starken Armen hochgezogen und eine mit Bartstoppeln übersäte Wange presste sich an ihre.
„Ria, mit allem habe ich gerechnet, aber nicht damit, dich noch Mal wieder zu sehen? Wo kommst du denn auf einmal her?“
Uli hielt sie auf Armeslänge von sich und schaute sie erwartungsvoll an.
Ria war von dieser Begrüßung überrascht! Noch nie hatte Uli es gewagt sie in die Arme zu nehmen und an sich zu pressen. Und sie musste zugeben, dass es ihr gefiel. Ja, sie spürte wieder diese Vertrautheit, mit ihrem früheren Freund!
Sie schaute Uli an und entdeckte neue Züge in seinem Gesicht. Er war männlicher geworden und strahlte eine ungewohnte Selbstsicherheit aus. Das war nicht Uli, wie sie ihn gekannt hatte.
Bevor sie etwas sagen konnte, zog Uli sie erneut an sich und flüsterte leise, „du glaubst gar nicht wie ich mich freue, dich zu sehen!“
Er löste sich von ihr und schob sie durch die Tür ins Innere des Hauses, indem er ihr eine Hand auf den Rücken legte.
„Wie kommt es, dass du hier bist? Wolltest du meine Eltern besuchen?“, fragte er.
Ria schaute ihn nachdenklich an. Uli hatte sich verändert! Nicht nur, dass er sie in den Arm genommen hatte, nein, auch äußerlich sah er anders aus. Nichts erinnerte mehr an den hübschen, aber etwas blassen Jungen. Der junge Mann, der jetzt vor ihr stand, hatte breite muskulöse Schultern und Arme. Er war überaus modern gekleidet und hatte relativ lange Haare, was ihm aber ausgezeichnet stand.
Es dauerte etwas, bis sie ihre Stimme wieder hatte: „Eigentlich wollte ich deine Eltern fragen, wo du jetzt wohnst? Ich habe versucht dich anzurufen, aber deine Nummer existiert nicht mehr!“ Ria hob etwas ihre Schultern, bei dem Gedanken, warum sie ihn hatte anrufen wollen. Unmöglich konnte sie ihm sagen, dass sie ihn wegen ihrer Wohnung brauchte. Nicht, nachdem er sie so empfangen hatte. Er hatte scheinbar immer noch Gefühle für sie und auch ihre Empfindungen waren bei seinem Anblick wieder da.
Uli machte ein trauriges Gesicht, bevor er ihr antworten konnte: „Mein Vater ist vor gut einem Jahr verstorben und meine Mutter hat das so mitgenommen, dass sie dement wurde und ich sie in einem Pflegeheim unterbringen musste. Ich wohne jetzt hier, weil ich so dichter bei meiner Mutter bin. Außerdem habe ich eine neue Handynummer, da ich jetzt ein Firmenhandy habe!“
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