Und um 23.15 Uhr: Erotisches zur Nacht

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Und um 23.15 Uhr: Erotisches zur Nacht

Und um 23.15 Uhr: Erotisches zur Nacht

Niels Heinrich

In der DDR war zwar nicht sehr viel wirklich lustig, aber auch in der DDR gab es schöne Sachen. Zum Beispiel Gesetzliche Feiertage. Ja, auch der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden hatte seinen Bürgern erlaubt, Pfingsten, Ostern und Weihnachten zu feiern. Das taten alle Familien auf die allgemein übliche Weise. Nämlich sich gegenseitig auf der Pelle hocken und voneinander genervt sein. Ein Umstand, der auch heute noch in Familienvätern, Müttern und Kindern Angstzustände vor dem nächsten verlängerten Feiertagswochenende auslöst. Es ist nämlich erwiesen, daß sich unter deutschen Dächern die Familienmitglieder während der Feiertage gegenseitig so auf den Sack gehen, daß nach Ostern, Pfingsten und Weihnachten die Scheidungsraten regelmäßig auf neue Rekordmarken steigen.In der DDR wurden zwar auch viele Ehen geschieden, jedoch hatte dies andere Gründe, zum Beispiel gaben viele Frauen ihrem Gatten den Laufpaß, weil der Alte den Ehekredit versoffen hatte.
Andere schlimme Sachen mögen auch zu Scheidungen geführt haben, aber die Feiertage gehörten in der DDR bestimmt nicht dazu.
Der Grund war die ausgeklügelte Programmgestaltung des Fernsehens der DDR. Das strahlte nämlich im ersten Programm jedesmal zu Pfingsten, Weihnachten oder Ostern die französische Fernsehserie "Erotisches zur Nacht" aus. Jede Episode dieser frivolen Serie dauerte, so glaube ich mich erinnern zu können, eine halbe Stunde, und bestand aus drei Kurzgeschichten. Diese nur am Anfang jeder Episode kostümlastigen Softsexfernsehspiele spielten allesamt zu einer Zeit, in der sich französische Aristokraten noch nicht einer revolutionsbedingten Fallbeilkopfrasur unterziehen mußten, sondern mit ihren Mätressen noch ein gewisses Sozialleben pflegten. Erotisches zur Nacht auf DDR 1, das ging es immer um ein armes Mädchen vom Land, das auf ein Schloß kommt, um dort dem reifen, nicht selten greisen Schloßherren eine dienstbare Hand zu sein. Nun hatte der alte Sack auf seinem Schloß meistens noch jemanden wohnen, wahlweise seinen Neffen, seinen Sohn oder den Rittmeister. Das Drehbuch verlangte dann immer ein Techtelmechtel zwischen junger Frau, in den meisten Fällen noch nicht defloriert, außer sie war ein ausgemachtes Luder, und dem jeweiligen jungen Mann. Der alte hatte dabei auch immer seinen Spaß. Denn in irgendeinem Wandgemälde fand sich meist ein Loch zum Durchgucken.
Tja, und nachdem das junge Ding dann wieder in sein Dorf zurückgeschickt worden war, frei nach der Devise: "Einmal ficken, weiterschicken!", stand schon die nächste Landschönheit vor der Pforte, um im Schloß eine große Überraschung zu erleben.
So in der Art spielten sich die Kurzgeschichten ab, die bei Erotisches zur Nacht über den sozialistischen Äther geschickt wurden.
Offiziell geb es keine Erhebung von Einschaltquoten für das DDR- Fernsehen. Man wußte nie, wieviele Fernsehzuschauer zum Beispiel Dagmar Frederic oder der Kessel Buntes hinter dem Ofen vorlockten. Für Dagmar Frederic und den Kessel Buntes war das wahrscheinlich auch besser so. In Bezug auf Erotisches zur Nacht vermute ich aber mal, daß das DDR- Fernsehen bei jeder Ausstrahlung zumindest in der DDR mehr Zuschauer hatte als ARD und ZDF zusammen. Es wird die einzige Sendung gewesen sein, bei der selbst hartgesottene Westfernsehgucker freiwillig DDR 1 eingeschaltet haben. Ein Beispiel: Lange nach dem Mauerfall, als ich einen Job in Hannover hatte, gestand mir sogar mein damaliger Chef, ein Westdeutscher, zu den Feiertagen immer DDR- Fernsehen geguckt zu haben. Und zwar Erotisches zur Nacht. Denn im öffentlich rechtlichen Westfernsehen liefen solche Sachen nicht, und die privaten Fernsehsender waren noch längst nicht auf Sendung. Mit seinen Sexfilmchen, die es bereits zu einer Zeit ausstrahlte, als das lange noch nicht selbstverständlich war, nahm das DDR- Fernsehen damals eine richtige Vorreiterrolle ein.
Wie alt werde ich damals gewesen sein? 14? 15? Naja, jedenfalls in einem Alter, in dem Jungs teilweise schon entdecken, daß nicht alle Mädchen doof sind, sondern das ein oder andere ja auch irgendwie ganz süß ist und daß man, wenn man ganz intensiv an das eine Mädchen denkt, so ein ganz seltsames Kribbeln im Bauch kriegt, verbunden mit einem kosmischen Glücksgefühl, welches in einem penetranten Grinsen Ausdruck findet, das man aufsetzt, während man im Gras liegt, die flockigen Wolken anguckt und an ein ganz bestimmtes Mädchen denkt.
Ich gehörte zu den Jungs, die diese Erfahrung nicht schon mit 14, 15 Jahren gemacht haben. Ich war ein Jahr später dran. Wenn man heutzutage ein Foto von mir in die Hände bekommt, auf dem ich 14, 15 bin, weiß man auch, warum.
Hätte ich allerdings in diesem Alter bereits eine Freundin gehabt, dann hätte ich auch alles versucht, mit ihr am Samstag abend, wenn auf DDR 1 Erotisches zur Nacht lief, allein zu sein. Um ganz intensiv zu kuscheln. Um Sachen zu machen, die man so macht, wenn man mit einem Mädchenballein ist und im Fernsehen gerade einen visuellen Scharfmacher konsumiert hat. Um Sachen mit ihr zu machen, die man in der Realität nie so richtig hinkriegt, weil sie sich als nicht so aufregend entpuppen, wie sie noch in der Fantasie waren.
Wie gesagt, ich hatte keine Freundin, also war ich dazu verdammt, Erotisches zur Nacht, das geilste, was es damals im Deutschen Fernsehen gab, eine Serie mit nackten Frauenärschen, kleinen und großen nackten Frauenbrüsten und angetäuschtem Geschlechtsverkehr zusammen mit meiner ganzen Familie zu gucken. Naja, die ganze Familie war es in Wirklichkeit nicht, die da nach 23 Uhr zu Pfingsten, Ostern und Weihnachten mit heruntergeklapptem Unterkiefer und, das war zumindest bei mir der Fall, angestrengt entspannter Sitzhaltung vor dem Familienfernseher saß. Die kleine Schwester fehlte. Die war noch jünger als 10. Da war der Fall klar. Das war nichts für die. Also saßen Mutti, Vati, der Sohnemann, das war ich, und die große Schwester vor dem Fernseher, um bei Wein, Bier, Brause und Erdnußflips Erotisches zur Nacht zu gucken. Wenn diese kleine versaute Fernsehserie dann nach Ende des Abspanns vorbei war, ging es bei uns zu Hause dann so richtig los. Aufgeheizt von diesen vielen erotischen Reizen im Farbfernsehen schütteten wir uns gegenseitig Wein, Bier und Brause in die Bauchnäbel. Das hat richtig schön geprickelt. Dann sind wir übereinander hergefallen und haben dabei so einen Krach gemacht, daß die Nachbarn klingelten und gefragt haben, ob wir a) gerade auch Erotisches zur Nacht gesehen und b) Kondome hätten. A ja, B nein.
Und im Prinzip stimmt das ja gar nicht. Aber wenn ich geschrieben hätte, wie es wirklich war, also, daß wir nach dieser Fernsehsendung ganz brav, und mit Ausnahme von Mutti und Vati, auch allein ins Bett gegangen sind, wäre das kein origineller Schluß dieser kleinen, ansonsten wahren Geschichte gewesen.

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