Urwaldsurrealismus

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Urwaldsurrealismus

Urwaldsurrealismus

Martin Kübler

Irgendwo tief im Urwald steht ein Baum. Mittelgroß, es gibt einige die ihn überragen und trotzdem hat er schon vieles gesehen. Sozusagen ein Baum im besten Alter.
Sein Tagesablauf ist streng geregelt, doch darüber macht er sich, wie die meisten Bäume, wenig Gedanken. Aufstehen, wenn die Sonne ihn weckt, atmen, vorsichtig ein Stück länger werden, die Blätter dem Licht zudrehen, auf den nachmittäglichen Regen warten, trinken, atmen, mit dem Wind geflüsterte Gespräche führen, und schließlich - kurz nach Sonnenuntergang - langsam einschlafen. So war es schon, so lange sich der Baum erinnern kann.
Während er sich im Wind wiegt, von der Sonne bescheinen und vom Regen beregnen läßt, hängt der Baum seinen Gedanken nach. Eines Tages, der nachmittägliche Regen hatte sich gerade verzogen, hörte der Baum ein langgezogenes, gedämpftes Rascheln. Suchend blickte er um sich und sah gerade noch, wie die Reste einer Liane vom Stamm eines Nachbarbaumes auf den Waldboden glitten.
Der Baum lächelte. Er selber hatte sich nie viel aus Lianen gemacht und etwaige Umklammerungsversuche immer schon in den Anfangsstadien unterbunden. Natürlich wußte er, daß viele seiner Nachbarbäume Lianen mochten, aber es endete doch immer gleich: Irgendwann gerieten sie in Streit mit ihren Lianen, fühlten sich mehr und mehr beengt und schüttelten sie schließlich ab.
Der Wind hatte dem Baum bereits viele Geschichten erzählt. Geschichten von weiten Feldern, reißenden Flüssen und Sandwüsten. Aber auch Geschichten von uralten Bäumen, die seit Jahrzehnten, von Lianen umrangt, Wind und Wetter trotzten.
Manchmal wunderte sich der Baum schon, wie es wäre, einer Liane in seinen Ästen Unterschlupf zu gewähren, aber letztendlich ließ er es doch nie soweit kommen.
Nachdenklich blickte er auf die am Boden liegende Liane, die letzten Sonnenstrahlen streiften seine Blätter und allmählich schlief er ein.
Er wachte auf, weil etwas an seinem Stamm kitzelte. Zuerst dachte er, es wäre ein vorwitziges Eichhörnchen, dann schlug er die Augen auf und stellte fest, daß es noch stockrammel duster war. Der Mond schien auf seine Blätter und der Baum verwarf seine Eichhörnchen-Theorie. In seinem Alter wußte er gut genug, daß Eichhörnchen Nachts nie auf Bäume kletterten.
Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, blickte er auf seinen Stamm.
Zuerst konnte er fast gar nichts erkennen. Er bog seine Äste etwas, so daß mehr Mondlicht auf seinen Stamm schien und sah, wie eine Liane langsam seinen Stamm umrangte.
“Denk mal an!”, brummte der Baum, “Kein Eichhörnchen, sondern eine blöde Liane wagt es meinen Schlaf zu stören!”
Der Baum schüttelte sich, versuchte die Liane abzustreifen.
“Don`t even try!”, flüsterte eine Stimme.
“Doh!”, dachte der Baum. “Eine Liane, die Englisch spricht! ”
“Verschwinde!”, brummte der Baum.
“Why should I?”, kam die Antwort aus dem Dunkeln.
“Warum, warum! Ich mache mir nichts aus Lianen! Darum!”, raunzte der Baum.
“What a pitty!”, flüsterte die Liane, lachte leise und sagte dann: “I know you don´t! Suppose, I do, though. What then?”
“Was dann?”, wiederholte der Baum, “Nichts dann! Mir ist wurst was Du willst - ich bin der Baum!”
“Mhmm, but I´m the liana...”
“Hör zu!”, rief der Baum, “Mach was Du willst. Es ist zappenduster, ich bin jämmerlich müde und...”, der Baum dachte ärgerlich an seine eingerosteten Englischkenntnisse, “...I´ve really got much better things to do than talking to a silly liana, which is why I´m off to bed again. Do you know what ´sliding down´means? I suggest you do that, while I´m sleeping!”
Sprachs, reckte seine Äste und machte die Augen zu.
“Sweety, up and down depend entirely on your perspective...”, flüsterte die Liane und schob sich vorsichtig vorwärts.
Der Baum ärgerte sich, denn er konnte nicht einschlafen.
Die Liane hatte aufgehört sich zu bewegen, aber er spürte deutlich, daß sie immer noch seinen Stamm umrangte.
“Eigentlich kein unangenehmes Gefühl...”, dachte der Baum.
“You´re not sleeping?”, flüsterte die Liane.
“So what!”, raunzte der Baum.
“Want me to show you, what you´ve been missing out on?”
“Klar möchte ich das! Ungefähr so sehr, wie daß mich blöde Menschen zu Klobrillen verarbeiten!”
“Now, now...”
“Hey! Glaub bloß nicht, daß ich nicht wüßte, was Du vorhast! Ich war immerhin vor einigen Jahrzehnten schon einmal fünf Jahre mit einer Liane zusammen und ich sage Dir, ´Das tut nicht gut!´”
“Sweety, you couldn´t be more wrong.”
“Hör auf mich ´Sweety´zu nennen!”
“If you say so, Sweety...”
Die Liane lachte leise und kletterte langsam weiter.
Der Baum grunzte. Schütteln und Rütteln schienen nutzlos - die Liane schob sich zielstrebig seinen Stamm entlang.
Unangenehm war es nicht, im Gegenteil. Je weiter sich die Liane seinen Stamm entlang schob, desto besser fühlte es sich an. Der Baum ärgerte sich trotzdem. Was erlaubte sich diese freche Liane eigentlich? Warum weigerte sie sich loszulassen? Normalerweise ließen Lianen sofort von Bäumen ab, die sich weigerten ihnen Unterschlupf zu gewähren. Warum war diese Liane anders?
“Look, you silly thing, let go of me. There´s no way this would ever work. I don´t do lianas! Trees and lianas aren´t supposed to be together. What makes you think, you´re different?”
“Honey, I´m not different, I´m special. A special liana, for a special tree. You never really listen to the wind, do you? He´d tell you...”
“Ja, ja, der Wind und seine blöden Geschichten!”, der Baum schüttelte sich, “>Some day, you, too, will fall for a liana - it´s your destiny.< I´ve heard it all before, but let me tell you, I don´t believe in destiny. I blatantly refuse to...”
“What a shame, honey, but refusing to believe in destiny doesn´t work. Destiny is like the sunset, whether you believe in it or not, it just happens.”
“Sonnenuntergänge machen aber wenigstens Sinn!”
“So you think this doesn´t, huh?”
“Absolutely not! See, it´s not that I hate lianas, but you can´t just turn up here, curl around me and expect me to be incredibly ecstatic about it! If at all, I want to choose my own liana. Sorry, but I mean, where´s the challenge? I don´t even know you!”
“The challenge? Why the heck do you need a challenge? Aren´t things complicated enough as they are? Challenges are for times when you don´t know, but this is different, ´cause we know.”
“Tatsächlich?”
“Sure. Look, it´s so easy, you´re a tree, sorry, you´re THE tree, and I´m a liana, or rather, I´m THE liana. ´You Tarzan, I Jane´ - anymore questions?”
“Who the heck is Tarzan?”
“Oh my...”
“Warum bist Du Dir so verdammt sicher? Was weißt Du schon mehr als ich?”
“Don´t ask me, I´m just a liana!”
“Prima! Das kann ja heiter werden! An English-speaking liana, which I can´t shake off and, worse, which is unable to explain what she´s doing. Say, do I have a choice at all in this matter?”
“Of course you do - in fact you’ve got two.”
“Sehr großzügig...”
“You can say `no´ now and afterwards thoroughly regret it or you can say `I´ll give it a try´. Look, sweety, I´m not asking you to marry me! You think, I´m rushing things, right? You´re wrong. Lianas never rush things. Don´t think too much!”
“Bäume sind rationale Wesen, Liana! Thinking little or not at all isn´t easy for trees. Was, wenn es schief geht? Was, wenn Du irgendwann Deine Meinung änderst? Was, wenn ICH irgendwann meine Meinung ändere? I´m young, free, it feels good - why change it?”
“Why change it, indeed? Sweety, I think you have to answer that yourself. Life happens today, but also tomorrow. Rationality cannot guarantee a carefree future - neither can irrationality. To cut a long story short, as they say in Yeehaw, I can´t give you a money-back guarantee, this isn´t a case of `If you´re not entirely satisfied with your purchase, there´s a 30-days, no quibble money-back guarantee, dial 1-800-FLYME for details!´
There´s one thing, I CAN do, however: I can give you my word, that you won´t regret giving it a try.”
Der Baum seufzte. Versprechungen, Versprechungen. Erinnerungen.
“What if I hurt you? What if you hurt me, Liana? We could be destroying a potentially very rewarding friendship.”
“Stop worrying! `What if...´isn´t in my vocabulary. Trees are supposed to be optimists, remember, unlike lianas, who are said to be born pessimists. I´m only a liana, but I can be strong for both of us...”, sagte die Liane und schlängelte sich langsam höher.
“Don’t...”, flüsterte der Baum, als die Liane sanft über zwei Astlöcher strich. Gleichzeitig zitterte er nervös - wider seinen Willen genoß er die Berührungen. Baumrationalität mißachtend, streckten sich seine Äste und Blätter, Erinnerungen fluteten durch seine Adern.
“Why? Don´t you like what I´m doing?”, murmelte die Liane.
“No! Yes! But...! Doh...! Gosh...!”
“Sorry? I didn´t quite get that.” Die Liane lachte leise und streichelte weiter über die Astlöcher. Vorsichtig ließ sie ihre Zunge über die Rinde kreisen.
“Mpff, I never knew lianas had tongues!”
“Well, well, well - fancy that, ey! Let me show you what I can do with it!”
“Don´t! ´s Vollmond!”
“So?”
“Vollmondnächte, Valentinstage... - bisschen klischeehaft, oder? This isn´t a romantic movie!”
“Honey, that´s the funniest excuse I´ve ever heard!”, die Liane schüttelte sich. “It´s so wonderfully weird that I buy it! Don´t worry, I really do, but before I´m off to bed...”, die Liane schleckte schnell über beide Astlöcher.
Der Baum begann zu schwitzen. Harz floß aus seinen Astlöchern.
“Yum!”
“Hör auf! If you don´t stop it now...”
“Fhen fhat? Forry, I know it´s impolite fo shpeak fifh a full moufh!”
“Dann, dann...”
“Fhen...?”
“Dann... Arghwrgslfxuhhh... I´mhhhh... I´mhhhh...” Der Baum schüttelte sich und machte einen kleinen Sprung. Harz flutete aus seinen Astlöchern und seine Wurzeln krallten sich in den Waldboden.
Rattateng! Rattatteng! Rattttatatatateng!
Der Baum grunzte. Irgendetwas hämmerte wie narrisch an einem seiner Äste.
“Herrschaftszeiten! Schluß mit dem Unfug, Specht! Lies gefälligst die Waldordnung, rumspechten in der Zeit von 22.00 bis 10.00 Uhr ist verboten. Laß mich weiterschlafen!”
Ratttatatateng? “Muß ich Dir erst die Augen aufmeißeln, Baum? Es ist 12.00 Uhr Mittags, was faselst Du da...?”
“?”, der Baum riß die Augen auf. Tatsächlich, Tageslicht und die Sonne stand auf 5 nach 12.00.
“Doh! Sorry, Specht!”
Ratttaattatatatatateng!
Was war bloß los? Er schlief doch sonst nie länger als 8.00 oder 9.00?
Dann erinnerte er sich und blickte auf seinen Stamm. Keine Liane. Vorsichtig wiegte er seine Äste. Nichts. Womöglich hatte er alles nur geträumt? Merkwürdig, bei diesem Gedanken spürte er einen stechenden Schmerz in seiner Krone.
“Looking for something, Sweety?”
Der Baum fuhr herum, und sah die Liane eingerollt zwischen seinen Wurzeln liegen.
“Maybe I am, maybe I´m not?”
“Does that mean, you´ll give it a try?”
“Of course it does, you silly thing! Come on up - oder hast Du plötzlich das Klettern verlernt?”
“My, my...”, murmelte der Wind, nachdem sich der nachmittägliche Regen gelegt hatte, “Wer hätte gedacht, daß Du irgendwann mal Deine Meinung ändern würdest, Baum!”
“Didn´t have much of a choice with a liana like that, did I?”
“Definitely not, dearest! Jolly good decision, anyway!”
“Au weia, Wind! Deinem Englisch nach hast Du echt zu lange durch Oxford geblasen...”

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