Vanessa wird geliebt

16 5-9 Minuten 0 Kommentare
Vanessa wird geliebt

Vanessa wird geliebt

Anita Isiris

Dann war es so weit. Ein letzter Kartoffelgratin, ein letztes Glas selbst gekelterter Rotwein. Cassata. Ein Espresso. Sven stand auf und umarmte Vanessa innig. Ein letztes Mal spürte er ihren grazilen und doch so kräftigen Körper. Dann drückte er Leo, Vanessas Freund, die Hand und ging nach draussen zu seiner Honda. Das Gepäck war sorgfältig verstaut, und er hatte die lange Fahrt aus dem Thurgau nach Bern vor sich, die er allerdings jedes Mal sehr genoss.

Sven drückte aufs Gas und blickte ein letztes Mal auf den Hof zurück, über den sich bereits die Nacht senkte. Bestimmt war er nicht das letzte Mal hier gewesen. Es war nicht nur Vanessa, die ihn in Bann zog, sondern auch die Tiere, speziell das neue Fohlen, die vielen Apfelbäume, die Felder und der Fluss hatten es ihm angetan. Nie würde er vergessen, wie Vanessa ihm Zeichen gegeben hatte, damit er sich rechtzeitig hinter einem Gebüsch verstecken und ihr beim Sex mit Leo hatte zusehen können – in ihrem Wissen. Nie würde er den verregneten Nachmittag vergessen, an dem Vanessa ihrem Freund und ihm, Sven, erlaubt hatte, sie im Bad zu filmen. Vor Sven lag ein Endlossemester, das eigentlich schon begonnen hatte – angesagt war die deutsche Gegenwartsliteratur. An sich ein spannendes Feld, aber je belesener er war, desto mehr verstärkte sich bei ihm der Eindruck, dass alles, wirklich alles schon einmal gesagt worden ist. Sei es von Aristoteles, sei es von Berthold Brecht, sei es von Haruki Murakami, dessen Romane er im übrigen sehr mochte – speziell wegen der darin vorkommenden unerwarteten Wendungen. Naokos Lächeln. Eines von Svens Lieblingsbüchern.

Er würde es noch einmal lesen und sich, an Stelle von Naoko, der Protagonistin, in dieser Liebesgeschichte Vanessa vorstellen. Vanessas Lächeln. Vanessa war drauf und dran, seine Gedanken vollkommen zu besetzen – derart, dass er beinahe die Ausfahrt zur Autobahn verpasst hätte. Was für eine Frau! Was für eine Seele! Was für ein Körper! Beim Einspuren musste Sven sich konzentrieren, danach liess er seine Gedanken wieder zu Vanessa schweifen, aber auch zu Leo, dem neu gewonnenen Freund. Die Zeit auf dem Hof hatte Sven gekräftigt und ihm Lebensfreude vermittelt, die er, nun wieder als gewöhnlicher Germanistik-Student, würde gebrauchen können. Nach stundenlanger Fahrt wurde ihm dann doch warm ums Herz, als er die Stadt Bern vor sich sah – mit ihren Brücken, dem Münster und den dunklen Fenstern, die sich in der Nacht im Mondlicht spiegelten. Er fuhr in die Brunngasse ein und parkte seine Honda. Liebevoll tätschelte er ihren Sattel. Das Motorrad war sein ganzer Stolz und hatte ihn schon durch die halbe Schweiz getragen. Sein Briefkasten quoll über, obwohl er doch die Nachbarin gebeten hatte, ihn gelegentlich zu leeren. Wenig später öffnete er den Kühlschrank, zischte sich ein Bier und fläzte sich erschöpft aufs Sofa. Die Brunngasse war Berns geheimnisvollste Gasse – man fand sie nicht sofort und nicht jeden Tag. Viele von Svens Kommilitoninnen und Kommilitonen, die ihn wegen der Wohnlage beneideten, hatten ihm bestätigt, dass die Brunngasse ab und zu unauffindbar ist – eines der vielen ungelüfteten Geheimnisse der Stadt Bern.

Ein paar Wochen später schrieb Sven Vanessa eine Mail. Zuunterst an der Brunngasse, seiner Wohnstrasse, befand sich der Club Venus. Einige Studentinnen verdienten dort ihr Geld – allerdings nicht mit klassischer Prostitution, sondern als Barkeeperinnen und Masseurinnen. Der Club Venus wurde nämlich von Frauen geführt, aber auch von Frauen betrieben. Sie hatten das Szepter fest in der Hand – es waren allesamt Frauen mit einem festen Beruf, mehrheitlich im Gesundheitswesen, wo sie aber derart schlecht bezahlt waren, dass sie sich im Club Venus ein Zubrot verdienten.

Männer als Gäste waren zwar willkommen, aber nur als Zuschauer. Sie durften die Frauen bewundern, sich einen runterholen, wenn sie sich nackt vor ihnen räkelten, und sie durften anwesend sein, wenn die weiblichen Gäste sich massieren liessen. Aber es herrschte ein absolutes Berührungsverbot – auch dirty talking war nur so lange erlaubt, wie es nicht misogyn und damit verletzend war. Trotz dieser Einschränkungen war der Club Venus unter Männern sehr beliebt – sie kamen sich in diesen Kellergewölben vor, als seien sie etwas Besonderes. Weil gängige Strukturen fehlten – somit auch keine glatzköpfigen Türsteher und keine öligen Zuhälter – war der Club Venus in der sonst eher prüden Stadt Bern auch von der Polizei geduldet. In Zivil gekleidet, liessen es sich selbst Polizisten, bis hin zum Offizier, nicht nehmen, sich im Club Venus ein Feierabendbier zu genehmigen – umgeben von schönen, natürlich aussehenden Frauen mit offenem Haar, Spaghettiträger-Tops und engen Jeans, niemals aber mit Tattoos übersät, niemals in Lack, Leder und Latex, niemals in High Heels. Nein, die Mitarbeiterinnen im Club Venus trugen ganz normale, bequeme Turnschuhe, manchmal Nike, manchmal No-Name, und sie durften hier einfach Frau sein und sich gehen lassen. Emmentalerinnen. Stadtbernerinnen. Frauen aus dem Gantrischgebiet. Frauen wie Vanessa eben.

https://onlyfans.com/swiss-girl

Sven verfasste seine Mail an Vanessa so, dass sie fasziniert sein und ihn bereits in den nächsten Monaten, gemeinsam mit Leo, an der Brunngasse besuchen würde. Sven hatte nur eine kleine Wohnung, aber doch ein „Gästezimmer für alle Fälle“. Diese Fälle waren manchmal betrunkene Kommilitoninnen, die keine Lust hatten, nach Hause zu gehen, manchmal auch Spontanbesuche von Svens Freunden aus Italien, Österreich, Deutschland und Spanien.

Vanessa reagierte umgehend. Sie sei, als Onlyfans-Model, keineswegs an Treffen interessiert, da müsse sie sich einfach abgrenzen. Weil aber Sven kein gewöhnlicher Onlyfans-Abonnent sei und sie Leo mitnehmen dürfe, sagte sie zu und würde an einem Freitagnachmittag Ende September am Berner Bahnhof eintreffen. Sven konnte nicht anders, als sich durch die Handyfotos zu scrollen, die er von Vanessa gemacht hatte. Sofort hörte er ihre Stimme, nahm ihren Duft wahr, sah ihr schwarzes Haar in der Sonne glänzen. Seine Sehnsucht frass ihn beinahe auf – und immer mal wieder wandte er sich in Berns Sandsteinlauben nach der einen oder andern Frau um, die von hinten ein wenig Vanessa glich.

Nach einem fröhlichen Nachmittag in Bern, an dem Leo und Sven Vanessa als Modeberater zur Seite standen, machten sich die drei auf den Weg zu Svens Wohnung an der Brunngasse. Vanessa hatte sich im Blue Tomato, im Metro und auch im H & M eingedeckt – mit Alltagskleidung, aber auch mit neuer Unterwäsche, mit der sie ihre Fans bezirzen wollte.

Vanessa duschte ausgiebig und stellte fest, dass das Svens Bad auch mit Shampoos und Lotions ausgestattet war, die wohl eher nicht für Jungs gedacht waren. Jedenfalls konnte Vanessa sich nicht vorstellen, dass Sven etwa den Hair Conditioner für sich selber verwendete. Genussvoll vetreilte sie das Duschgel auf ihrem ganzen Körper, richtete den Duschstrahl auf ihre Brüste und stellte sich einen Moment lang vor, eine versteckte Kamera sei auf sie gerichtet… und dass Leo und Sven sie in dessen Schlafzimmer auf einem Monitor betrachteten, die sich unter der warmen Dusche aalende Vanessa. Die Vorstellung machte sie dermassen an, dass sie nicht anders konnte als an ihrer Muschi herumzuspielen und sich einen kleinen Tod zu gönnen.

Allmählich senkte sich der Abend über Bern, Vanessa rubbelte ihr Haar trocken, frisierte sich und  knöpfte aufgeregt ihre neue, malvenfarbene Bluse zu. „Wir gehen nicht ins Theater, wir gehen in einen Club“, lachte Leo und zog seine Freundin an sich. Sven hatte den beiden die Regeln erläutert. Vanessa durfte alles, ihnen beiden hingegen, als Männer, war nur Zuschauen gestattet. Um einundzwanzig Uhr war der Club Venus bereits sehr gut besucht. Sven und seine beiden Freunde bekamen aber Vortritt, weil er nicht nur Stammgast war, sondern auch die eine oder andere Frau angeworben hatte, die hier ihr zusätzliches Geld verdiente.

Auf den obersten Treppenstufen musste man den Kopf einziehen, so eng waren die baulichen Verhältnisse, dann aber weitete sich ein geräumiger Keller vor ihnen. Ein Gemisch von dezenten Parfums waberte in der Luft und steigerte vor allem Leos Aufregung. Er hatte noch nie eine solche Location besucht und war sehr gespannt, was für eine Welt sich da öffnen würde. Smirnoffs und Campari Orange wurden serviert, und Vanessa kam sich vor wie an einer Klassenparty. Im Hintergrund Musik von Taylor Swift, dann Billie Eilish – Playlists aus den letzten paar Jahren, was in etwa dem jungen Publikum entsprach. Vanessa war alledings nicht naiv und wusste genau, dass da noch mehr war. In den hinteren Räumen. Der Club war nicht deshalb gut besucht, weil die Leute ein bisschen Billie Eilish hören und Smirnoff süffeln wollten. In einem Nebensatz hatte Sven sie in einer Mail gebeten, ihr Schamhaar spriessen zu lassen, sie würde dann beim Besuch in Bern früh genug erkennen, wozu das gut sei.

Da spürte Vanessa einen sanften Druck; jemand ergriff ihre Hand. „Komm“, flüsterte ihr eine weibliche Stimme ins Ohr. In Begleitung von Sven und Leo fühlte Vanessa sich sicher und folgte der Frau, die sie mit sich in einen Nebenraum zog. Dann wurde ihr eine Augenbinde angelegt. „Leo...“, sagte sie, weil ihr jetzt doch ein wenig mulmig zumute war. Sie kannte Sven ja nicht wirklich, und wenn Vanessa etwas nicht ausstehen konnte, dann waren es düstere Lack-Leder-Latex-Sado-Maso-Spielchen. Mit einer Augenbinde war sie aber komplett ausgeliefert und zögerte nun doch, der Frau, die sie an der Hand hinter sich her zog, zu folgen. „Wir sind ja bei Dir, Vanessa“, sagte Sven beruhigend, und Leo sagte dasselbe zu ihr. „Wir sind ja bei Dir.“.

Dann wurde Vanessa entkleidet, nachdem ihr die Frau, die sie hinter sich her gezogen hatte, einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. „Entspann Dich, Schätzchen, es kommt gut“, sagte sie in breitem Berndeutsch. Vanessa gefiel der Dialekt derart, dass sie sich sofort ein wenig entspannte, während ihr die Frau die Bluse aufknöpfte. „Alles gut, Vanessa“, flüsterte ihr jemand ins Ohr. Leo. Vanessa entschloss sich, zu vertrauen, obwohl ihr das am Anfang nicht ganz leicht fiel, so allein unter vielen fremden Menschen. Ehe sie es sich versah, war sie nur noch mit ihrem Slip bekleidet und wurde zu einer bequemen Liege geführt.

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 6095

Weitere Geschichten aus dem Zyklus:

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben