Vera

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Der Wecker klingelt. Vera liegt auf dem Bauch und tastet mit ihrer rechten Hand nach dem Ausschaltknopf. Sie findet ihn nicht, der Wecker piept unerbittlich weiter. Wenn jemand neben ihr liegen würde, würde er vielleicht ins Kopfkissen „mach den verdammten Wecker aus“ grummeln und sich auf die andere Seite drehen. Jetzt findet sie den Ausschalter. Sie wünscht sich kurz, daß jemand neben ihr liegt, jemand der mit ihr aufwacht, aufsteht, Kaffee macht und sich mit ihr an den großen naturholzfarbenen Wohnzimmertisch setzt. Jemand mit dem sie sich unterhalten kann. Selbst wenn derjenige sie nur vollquatschen würde mit irgendwelchem langweiligen Zeug. Selbst das würde ihr reichen. Sie steht ohne langes Zögern auf, zieht ihren schwarzen Schlüpfer und ihr weites weinrotes T-Shirt aus und geht nebenan ins Bad. Sie duscht lang und ausgiebig. Manchmal stellt sie den Duschkopf von Brause auf einen einzigen dicken Strahl und bringt sich in die Wanne zurückgelehnt zum Höhepunkt. Das geht meist sehr schnell und ist schnell vorüber wie ein vorbeiziehender Vogelschwarm im Herbst. Aber nicht heute. Sie steigt aus der Wanne, trocknet sich zuerst die Beine ab, ihren runden Po, die Scham, den Bauch, ihre leicht hängenden Brüste, Größe 75 C, den Hals, das Gesicht. Sie zieht den weißen Bademantel an, rubelt mit einem zweiten Handtuch über ihre kurzen braunen Haare. Sie geht in die Küche und kocht Kaffee, zwei Tassen, drei gehäufte Teelöffel. Die Kaffeemaschine hat sie von ihren Eltern geschenkt bekommen, als sie in die modernisierte 3-Zimmer Altbauwohnung in Mitte gezogen ist – damals zusammen mit Martin. Jetzt ist Martin weg, weggezogen in eine andere Stadt. Vier Jahre ist das her. Martin war ihre Schulliebe. Mit ihm hatte sie ihren ersten Sex. Anfangs taten sie es sehr oft. Später nicht mehr soviel. „Ich komme dabei nicht zum Orgasmus“ hat sie ihm nach zwei Jahren gestanden. Und von den anderen Sachen verstand Martin nicht so viel. Sie hatten es ein paarmal mit Oralsex versucht, aber das hatte nicht richtig geklappt. Bei ihm auch nicht. „Dein Mund ist zu klein“ hat er ihr gesagt „Du tust mir zu sehr mit den Zähnen weh.“ Sie schüttet sich den Kaffee in eine große grüne Tasse. Die hat sie von ihrer Schwester bekommen. Eigentlich wollte diese die Tasse mal einem Typen aus eine Soap-Opera schenken, die täglich nachmittags im Fernsehen zu sehen war. Aber er war bei ihren Besuchen am Set nie da. Die Tasse stand herum und irgendwann brachte sie sie Vera mit. Vera macht zwei Teelöffel Zucker in die Tasse und nippt vorsichtig. Während sie schluckt, schaut sie auf die Uhr. Sie hat noch zwanzig Minuten. Dann muß sie los. Sie stellt sich ans Fenster. Es ist dunkel draußen, manche Fenster sind schon erleuchtet. Die vorbeifahrenden Autos haben noch ihre Scheinwerfer an. Der Weg zur Bahn führt durch einen Park. Sie durchquert ihn hastig und steigt hinab in die U-Bahn. 25 Minuten Fahrt. Sie nimmt ein Buch aus der Tasche. Ein dicker 400 Seiten Wälzer von einer englischen Autorin über eine junges adliges Mädchen aus der viktorianischen Zeit. Lektüre ohne Ecken und Kanten, eine vor sich hinplätschernde Handlung mit ein paar sexuellen Andeutungen. „Weiberkram“, hätte Martin gesagt und demonstrativ in einem seiner Schwergewichte weitergelesen. Martin mit seinem Abitur, seinen gescheiten Büchern und seinen starken, stinkenden französischen Zigaretten. „Lecken konnte er trotzdem nicht“, denkt sie trotzig und blättert die Seite um. Ab und zu schaut sie kurz und flüchtig von ihrem Buch auf. Die meisten Leute sitzen dumpf und mit nach innen gekehrten Gesichtern auf den Bänken. In solchen Situationen haßt sie ihre Arbeit, das frühe aufstehen, die Menschen in der Bahn, die Eintönigkeit des Jobs. Doch wenn sie das Gebäude betritt und zu ihrem Büro geht, vergeht dieses Gefühl sehr schnell. Dort sind ihre Kollegen, ihre Arbeit, die sie versteht, die sie gut macht, fleißig, gewissenhaft.
Heute sind sie nur drei Leute im Büro. Claudia ist wieder mal krank, Ralf im Urlaub in Malaga. Karen sitzt sicher schon wieder seit einer halben Stunde hier. Sie ist die erste die da ist und die letzte die geht. Irgendwann mal hat Vera sie gefragt, ob sie zu hause nichts zu tun hätte. Da hat Karen nur mit den Schultern gezuckt. Karen ist Mitte vierzig. Kein Mann, keine Kinder. Nur die Arbeit und einmal im Jahr ein ausgedehnter Urlaub auf Kuba. Kurz hinter Vera kommt Frank mit einem in Alufolie verpackten Kuchen in der Hand. Ein Kind aus seiner katholischen Kindergruppe, die er betreut, hat heute Geburtstag. Deswegen hat er einen Gleittag genommen und will um kurz nach zwei Uhr schon wieder los. Vera fragt sich ob Frank nicht pädophil oder schwul ist. Nie wird über eine Frau gesprochen, keine Freundin, keine Verabredungen, kein nichts. Er erledigt seine Arbeit korrekt, er ist immer sauber gekleidet, randlose Brille, randlose Gestalt. Sie setzt sich hin und schaltet den Computer an. Arbeit.
Manchmal wenn die Augen vom langen starren auf den Computerbildschirm schmerzen und sie die Augen zusammenkneifen muß verschwimmt ihr alles, die Tische und die Pflanzen, die Computer, die Schrift in den Akten und die Kollegen. Alles wird zu einer farbigen verschwommenen Masse. Sie denkt dann, sie ist selbst Teil dieser Masse. Nach eineinhalb Stunden holt sie sich den zweiten Kaffee und schenkt sich noch einen kurzen Blick aus dem Fenster bevor sie weiter den Aktenstapel aufarbeitet, der rechts neben ihr in der Papierablage liegt. Nach weiteren zweieinhalb Stunden ist sie fertig. Sie schaut auf die Uhr: Noch eine Viertelstunde bis Mittag. Frank hat das Radio angemacht. Die größten Hits aus den 70ern bis 90ern düdeln aus dem Lautsprecher. Wer hat bloß festgelegt, was die größten Hits aus den 70ern, 80ern und 90ern sind? Karen schaut von ihrer Arbeit auf: „Wollen wir zum Mittag?“
Vera schaut auf die Uhr und nickt. Warum nicht. In der Kantine kauft sie sich ein Schinken-Käse-Baguette für 4.20 DM und einen großen gemischten Salat für 6.80 DM. Karen erzählt von ihrem Wochendausflug auf irgendein Baumblütenfest. Vera hört angestrengt zu. Bloß nicht anmerken lassen, daß sie das Thema überhaupt nicht interessiert. Kurz nach der Mittagspause fällt der Computer aus. Nichts zu machen. Karen geht hinaus auf den Flur, qualmt eine nach der anderen und unterhält sich mit Kollegen aus den anderen Büros. Frank packt seine Sachen und geht zu seiner Katholikengruppe. Vera sitzt da und überlegt. Was tun? Das Buch weiterlesen? Jemanden anrufen? Wen? Ihre Eltern? Oder vielleicht Bernd hier im Betrieb. Sie nimmt den Hörer ab und wählt. Mit Bernd ging es ein halbes Jahr gut. Er arbeitet im gleichen Betrieb, nur zwei Etagen tiefer in einem anderen Dezernatsbereich. Er ist acht Jahre älter als sie, groß, hat schon Speck um die Hüften, viele Haare auf der Brust und so gut wie keine auf dem Kopf. Bei ihm ist es immer sauber in der Wohnung. Kochen kann er, geht zweimal die Woche zum Volleyball.
„Mit dir kann ich mir keine Beziehung auf Dauer vorstellen“, hat er nach knapp fünf Monaten gesagt. „Ich mache Schluß.“ Das war vor einem halben Jahr. Ab und zu rufen sie sich gegenseitig an. Dann quatschen sie lange. Meistens fragt dann einer von beiden, ob der andere nicht noch vorbeikommen will. Im Grunde sollte sie sich nicht darauf einlassen. Aber warum eigentlich nicht. Lieber ab und zu einen Schwanz und einen warmen Körper neben sich beim einschlafen als diese ständige Leere. Sie weiß, daß er sie ausnutzt mit diesen sporadisch zusammen verbrachten Nächten alle ein zwei Monate. Das er sie damit indirekt an sich bindet ohne sie völlig zu umschließen oder freizugeben. Es klingelt, aber niemand hebt in seinem Büro ab. Sie legt auf und wartet, daß der Computerfehler behoben wird. Sie wartet bis kurz nach fünfzehn Uhr. Es passiert immer noch nichts. Sie nimmt ihre Tasche und geht nach Hause. Im Gemüseladen an der Ecke kauft sie etwas Obst. Sie kommt zu Hause an. Sie wohnt im vierten Stock. Als sie die Treppe hochgeht sieht sie jemanden an der Tür sitzen. Es ist Bernd. Neben ihm steht eine Tüte.
„Ich habe Glasnudeln und ein paar Gewürze mitgebracht. Wir können ein bißchen Chinesisch kochen - wenn du willst.“
Ihr Herz hüpft kurz und heftig. Sie lächelt leicht und seufzt. „Warum nicht. Komm doch rein.“
Sie schließt die Tür auf, er hebt seine Einkaufstüte vom Boden auf und beide gehen hinein. Sie stellt ihre Tasche ab. Gleich wird sie sich umdrehen und ihn fragen, ob bei ihm auch heute die Computer ausgefallen sind.

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schreibt HansG

Was genau tut man, wenn einem eine Geschichte nicht gefällt? Ein Gegenstück zum Herzchen gibt es leider nicht. Die Geschichte hier scheint mir unvollendeter als die Unvollendete. Kein Hauch von Erotik, und das auf Erozuna…

Gedichte auf den Leib geschrieben