Der vergessene Mann

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Der vergessene Mann

Der vergessene Mann

Patricia Lester

„Benjamin, dein Frühstück ist fertig, und deine Eier werden kalt.“ Der so Angesprochene seufzte, zog den Gummi an seiner Schlafanzughose hoch, die immer noch die gnadenlosen Falten aufwies, die seine Mutter in die grünweiß gestreifte Baumwolle gebügelt hatte, und dachte: „Meine Eier sind seit meiner Firmung immer kalt.“ Und die war vor zehn Jahren gewesen. Benjamin unterdrückte einen weiteren Seufzer, seine Mutter wäre nur mit dem Fieberthermometer gekommen, hätte seinen Puls gefühlt und ihn mit ihrer gewalttätigen Fürsorge und Zärtlichkeit erdrückt. Benjamin hatte einen IQ, der weit über dem Durchschnitt lag, das wusste er, dass er sich wie ein Idiot benahm, war ihm auch klar. Und dass ihn seine Schüchternheit davon abhielt, das Leben, vor allem die Frauen, wahrzunehmen oder gar zu genießen, stand jeden Abend, wenn er sich ins Bett legte, wie eine drohende Wolke vor ihm. Bei seinem ersten Treffen mit einem dieser geheimnisvollen weiblichen Wesen war er noch guten Mutes gewesen. Billy war unglaublich. Ihre Haare, merkwürdig blond und braun, ihr Mund, spöttisch, wenn er geschlossen war, ein verführerischer Abgrund oder der sprichwörtlich flammende Höllenschlund, wenn er sich zu einem Lachen öffnete. Und Benjamin, der Blödmann, hatte dieses Traumgeschöpf mit nach Hause genommen, wo seine Mutter wartete. Das war es dann gewesen. Ein paar Mal hatte er sich noch mit Mädchen getroffen, immer irgendwo in Cafes oder Discos, doch seine Mutter schien jedes Date förmlich an ihm zu riechen und bekam prompt einen ihrer grässlichen Migräneanfälle, denen er hilflos ausgesetzt war. Sein einziger Freund war sein Computer, und dem hatte er seine ganze Leidenschaft gewidmet. Balduine I, ein PC mit einer Festplatte so groß wie eine Briefmarke und einem Monitor, der mit seinen schlierigen schwarzweißen Streifen überhaupt keiner Bezeichnung wert war, wich im Laufe der Jahre Balduine II, III, und heute stand Nummer V vor ihm. Sein einziges Glück, seine Leidenschaft und Erfüllung. Vor dieser himmlischen Errungenschaft war Benjamin der Größte. Dass das nur ein dummer Kasten war, der außer Null und Eins nichts konnte, wusste Benjamin, doch er hätte diesen Ausdruck nie zugelassen. Hier war Benjamin der Held, Sieger und Eroberer, ein Megabyte-Tarzan.

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