Vier Uhr siebenunddreißig

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Vier Uhr siebenunddreißig

Vier Uhr siebenunddreißig

Michael Stein

Kaltes Entsetzen breitet sich in dir aus. Du kannst die unterschiedlichen Gesichter, welch dich unverhohlen aus geöffneten Türen im Treppenhaus mustern, nur wage zuordnen. Hast viele lange nicht mehr gesehen. Daß sie unmodern gekleidet sind, scheint dich nicht zu wundern. Viel zu sehr sitzt dir die Panik im Nacken, hat dich zudem tiefste Scham gepackt. Alles wissen es. Wissen was dir schon angetan wurde. Werden auch dieses mal wieder mitbekommen, was dir geschehen wird. Du wirst vorwärts gestoßen. Getrieben. Du stolperst.
Du hast das Gefühl, als hättest du Fesseln an den Knöcheln. Fesseln aus Gummibändern die eng sind, dir nur kurze mühevolle Trippelschritte ermöglichen, jeden Schritt mühsam machen, die Beine lähmen. Den eisernen Griff der Hand im Nacken empfindest du schmachvoll, erniedrigend. Du würgst, hustest, kannst kaum schlucken. Dein Atem geht stoßweise.
Obwohl deine Augen weit aufgerissen sind, siehst du nur schemenhaft. Stellst dir vor, daß man so sehen muß, wenn man "auf Droge ist. Die Pupillen geweitet, keine Schärfentiefe. Alles verschwimmt. Ist es zu dunkel zu sehen? Oder zu hell, zu grell, das Licht, das dir in die Augen scheint und von irgendwo her zu kommen scheint. Getragen wie von Wellen. Pulsierend. Der ganze Raum scheint zu vibrieren, seine Schwingungen sich auf deinen Körper zu übertragen.
Etwas mächtiges, hinter dir, über dir, du kannst es nicht erkennen, dirigiert dich, führt dich. Zwingt dich in Richtungen, an die du dich weigerst dich zu erinnern. Welche du nicht kennen willst. Die dir Angstträume bereiten. Etwas erwartet dich, das den Pulsschlag hoch peitscht, dir den Schweiß auf den Körper treibt. Dir Phantasien aufzwingt, für die du dich vor dir selbst schämst. Welche dir aber auch Lust und Verlangen dorthin treiben, wo du dich dann berühren mußt. Zwanghaft. Dort, von wo es kein Entkommen gibt. Wo du dir nach der Erlösung schmutzig vorkommst.
Die Stufen, die du hinunter getrieben wirst, sind steil. Die Treppe scheint eng zu sein, wird immer enger. Jeder mühsam vollzogene, eingeengte Schritt zwängt dich mehr ein, stranguliert dich, nimmt dir Luft. Obwohl Wände um dich herum sind, kannst du dich nicht abstützen, wirst du nicht gehalten. Daß du dich mit eigenen Händen nicht sichern, schützen kannst, erregt dich. Bringt deinen Körper in Aufruhr, deine Sinne in höchste Anspannung. Da, Ihr scheint am Ziel zu sein. Der Weg verzweigt sich. Im schalen Licht einer nackten Glühbirne erkennst du eine vergitterte, verschlossene, modrige Tür. Woher weißt du schon jetzt, was sich dahinter verbirgt? Eigentlich nichts. Lediglich ein Regal. Eingemachtes. Alte Zeitungen. Die Schuhschachtel mit dem Weihnachtsschmuck. Eine Pritsche, muffig, brüchig, morsch. An einer Wand ein grob eingeschlagener Nagel, den du nicht siehst, wohl aber weißt daß er dort ist. Etwas hängt dort. Du kennst es nicht, kennst es doch.

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