Unweit des Frankfurter Kreuzes hatte sich aus der reinen Bürostadt Niederrad im Laufe der vergangenen Jahre das Lyoner Quartier entwickelt, das in seinen Hochhaustürmen sowohl gewerblichen als auch privaten Mietern eine Heimat offerierte. Speziell bei Nacht boten die erleuchteten Fenster der bis zu 25 Etagen hohen Gebäude einen faszinierenden Anblick, wenn sich die Lichter in den gegenüberliegenden Glasfassaden spiegelten.
Violette Levèvre liebte dieses Viertel, seit sie vor sechs Jahren hier zunächst einen Job in einer internationalen Personalberatung angenommen hatte. Ihr großes Einfühlungsvermögen, gepaart mit einem außergewöhnlichen Maß an Menschenkenntnis, hatte ihr bereits mit 32 Jahren ermöglicht, sich in der hart umkämpften Branche als Headhunterin selbstständig zu machen. Der Charme und das Aussehen von Violette hatten sicherlich dazu beigetragen, ihr die Türen zu öffnen. Ihre südtiroler Mutter und ihr aus Nizza stammender Vater hatten ihr einen stets gebräunt wirkenden Teint und seidiges braunes Haar vererbt. Das seit Jahren regelmäßige Fitnesstraining hatte für eine schlanke, wohlproportionierte Figur gesorgt.
Als Violette ihre eigene Firma gründete, stand außer Frage, dass sie ihr schickes Büro im Lyoner Quartier eröffnen würde. Gerade waren die obersten fünf Etagen eines attraktiven Bürogebäudes in kleinere Wohneinheiten umgewandelt worden, was ihr ermöglichte, Arbeits- und Wohnraum miteinander zu verbinden. Wenn sie vom Parkplatz aus die Glasfassade nach ihren eigenen Fenstern im 21. Stock absuchte, war sie immer noch beeindruckt von der kühlen Schönheit des Gebäudes, das sich in den gegenüberliegenden Glasfassaden spiegelte.
Schon bei Tage genoss die schöne Headhunterin den Blick auf die glitzernden Fronten des Stadtviertels und die Höhenzüge des Taunus in der Ferne dahinter. Wenn sie am Schreibtisch die unterschiedlichen Qualitäten der aktuellen Jobkandidaten analysierte, half ihr die Aussicht bei der Sortierung ihrer Gedanken. Doch wenn abends die Dunkelheit hereinbrach, spielten die Häuserfronten erst ihre wahre Faszination aus. Oft saß Violette nach Feierabend mit einem Glas kühlem Chardonnay auf ihrem eleganten Sofa, das sie zum Fenster hin ausgerichtet hatte, und zählte die erleuchteten Felder in der Glasfassade gegenüber. Zunächst waren es ganze Etagen, in denen noch das Licht brannte, dann nur noch vereinzelte Räume, die sich von ihrem dunklen Umfeld absetzten. Sie liebte es, die Aktivitäten zu beobachten, die sich in den Büros abspielten. Sobald die Reinigungsfirmen ihre Tatorte verlassen hatten, blieben - abgesehen von den privaten Wohnungen - nur noch die eifrigen Nachtarbeiter übrig, die vor ihren Bildschirmen saßen oder telefonierten.
Violette und die Glasfassade
23 6-10 Minuten 1 Kommentar

Violette und die Glasfassade
Zugriffe gesamt: 4230
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.
Schade…
schreibt HansG