Ich hatte nicht sofort Zeit zurückzurufen. Und am Abend war ihr Mobiltelefon nicht zu erreichen.
Auch den gesamten Freitag über konnte ich nur: „Ihr Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen. The person you called is temporarely not available…“ als Antwort des Providers erhalten.
Was war passiert? Hatte ihr Ex sie entführt? Oder ihr etwas angetan? Am Abend wählte ich Enissas Nummer. Ja, sie wisse, dass Dounjas Scheidung durch ist. Aber nicht, wo meine Geliebte gerade ist. Irgendwie klang Dounjas Freundin seltsam. Das ist mir aber erst später aufgefallen, als ich erneut intensiv nachgrübelte, wo meine Liebe denn stecken könnte.
Bei Anna! Natürlich! Warum war mir das nicht sofort eingefallen. Sie musste zu ihrer Tochter gefahren sein! Aber auch von ihr konnte ich nur erfahren, dass ihre Mutter sie nach dem Scheidungstermin angerufen hatte. Aufgetaucht wäre sie bei ihr nicht. Angeblich. Denn auch Anna klang irgendwie verstellt. Nach dem Gespräch war ich mir unsicher. Sagte sie wirklich „Aufgetaucht“? Nein, Anna sagte: „Hier ist sie nicht!“
Auf meine Nachrichten abends und nachts kam keine Antwort. Ist sie bei ihm? Dem Mann, den sie in Wien kennengelernt hatte? Oder hat doch Peter etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Ich war verzweifelt. Wenn ihr etwas passiert ist!? Ein Unfall? Nein, Dounja hat einen Zettel an ihrem Ausweis kleben, dass man mich verständigen sollte. Aber – wo ist sie?
Samstagvormittag. Würde Dounja heute bei mir aufkreuzen? Oder sollte ich sie suchen? Vielleicht verpassen wir uns dann? Gegen Mittag entschied ich mich dazu, nach Innsbruck zu fahren. Plan hatte ich keinen. Wenn ich sie in ihrer Wohnung nicht antreffen würde, wäre Enissa meine erste Anlaufstation. Und wenn ich dort nichts erfahren würde, ihr Exmann.
Ihre Wohnung war aufgeräumt. Aber von Dounja keine Spur. Oder doch? Ihre Reisetasche fehlte. Und sie hatte den neuen Schmuck, von Meandros (Ihr erinnert euch?), mitgenommen.
Enissa wollte mich gar nicht einlassen, mit der Begründung, dass Hakan nicht da wäre. Erst als ich sie anflehte und beteuerte, dass ich völlig verzweifelt bin, meinte sie: „Ich kann Dir nichts sagen! Ich habe es versprochen!“ Sie drehte sich um und ich hatte das Gefühl, sie bekam einen Weinkrampf, als sie die Türe zuschob. Mein Gefühl trog mich nicht, denn ich hörte ihr schluchzen. Ich wartete noch eine Weile, aber Enissa öffnete nicht mehr.
Ihr Ex hatte kein gutes Wort für mich. Er beteuerte aber nicht zu wissen, wo die ‚Schlampn‘ ist. Ich konnte ihn ja verstehen und – ich glaubte ihm. Wobei ich die Bezeichnung ‚Schlampe‘ für eine Frau, die er einmal geliebt hatte, unverschämt fand.
Noch einmal kontaktierte ich Dounjas Tochter. Kurz angebunden antwortete sie nur, dass ihre Mutter nicht bei ihr sei. Während meiner Frage, ob sie eine Vermutung hätte, wo sie denn stecken könnte, legte sie auf. Ich war im vergangenen Jahr zwei Mal mit Dounja in Wien bei Anna und ihrem Freund. Sie kennt mich. Gut, Anna hätte es gerne gesehen, wenn ihre Eltern wieder miteinander…aber ist das Grund genug, mich mit meinem Anliegen abzuweisen?
Mein Besuch bei einer Polizeidienststelle in Innsbruck endete auch ergebnislos. Immerhin erfuhr ich, dass Dounja kein Opfer einer Gewalttat wurde. Jedenfalls gab der Computer zu diesem Zeitpunkt nichts dazu her. Auch in den Innsbrucker Krankenhäusern war sie nicht registriert. Man war sogar so freundlich und versuchte ihr Telefon zu orten. Leider ohne Erfolg. Den guten Rat: „Lossen Sie sie in Ruah. Sie ist dawachsen und wird schon wissn, was sie tuat!“ hätten die sich sparen können!
Ich war am Boden zerstört. Bei meinem Arbeitgeber meldete ich mich krank. Und weil ich mit den Nerven völlig runter war, bekam ich eine Krankschreibung von meiner Hausärztin. Ich glaube, sie konnte meine Gefühlswelt nachvollziehen.
Zwei Wochen und fünf Tage sind derweil vergangen. Kein Anruf, keine Nachricht von meiner Geliebten. Ihr Telefon ist nach wie vor ausgeschaltet. Ein Anruf bei der österreichischen Polizei brachte keine neuen Erkenntnisse.
„Ich hab Dich lieb! Für immer. Vergiss das nie!“ Das waren ihre letzten Worte bei unserem Abschied. Sollte das wirklich ein Abschied für immer gewesen sein? Wusste sie, dass es kein Wiedersehen geben wird? Verdammt, Dounja, wo bist Du? Du fehlst mir!
Heute, Mittwochmorgen, läutete gegen halb acht mein Mobiltelefon. „Ich darf Dich eigentlich nicht anrufen.“ Annas Stimme klang verzweifelt. „Aber ich weiß nicht weiter. Sie heult nur noch. Nicht wegen dem Tumor. Komm, schau dassd vorbeikommst! Bald!“ Und am Verzweifelndsten klang ihr: „Bitte!“
Schon bei ihrem ersten Ton war ich hellwach. Wie ein Blitz fegte ich aus dem Bett ins Bad. Zehn Minuten später war ich auf der Straße, unterwegs nach Wien. Fragt nicht wie…
Das Navi führte mich. Auch ein Parkplatz war unweit Annas Wohnung zu finden. Unzählige Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Am Telefon sprach ihre Tochter von Tumor. Wie schlecht ging es meiner Geliebten? Und warum wollte sie mich nicht bei sich haben?
Auf mein Läuten öffnete ohne weitere Rückfrage die Haustüre. Aufzug, fünfter Stock. Anna wartete an der Wohnungstüre. „Sie ist im Schlafzimmer! Komm!“
Anna ging voraus. „Sie isst nix und heult die ganze Zeit. Ich hab meinen Freund ausquartiert. Rede mit ihr. Ich werd‘ euch nicht stören.“ Ganz leise klopfte sie an. Anna drückte den Türgriff und schob mich in das verdunkelte Zimmer.
Eine Stimme, Dounjas Stimme, kam brüchig vom Bett: „Ich habs noch nicht angerührt.“
„Solltest Du aber!“ antwortete ich und setzte mich auf den Rand des Bettes.
„Geh wieder!“ Dounja vergrub sich unter der Bettdecke.
„Ich werde nicht gehen;“ sagte ich selbstsicher. „Und wenn, dann kommst Du mit! Wir gehören zusammen! Schon vergessen: Für Immer!“
„Ich will nicht, dass Du mich so siehst!“ kam erstickt unter der Decke hervor.
„Hast Du Schmerzen?“ fragte ich besorgt.
Anhand der Bewegungen ließ sich erkennen, dass sie ihren Kopf schüttelte.
„Dann rede mit mir! Ich glaube schon, dass ich das verdient habe!“ Nein, ich würde mich nicht abweisen lassen.
Nach gefühlten drei Minuten schob Dounja ihre Bettdecke zu Seite. Wie ich im Halbdunkel erkennen konnte, sah sie elend aus. Meine Geliebte schaute mich fragend, vielleicht hilfesuchend an.
Natürlich hatte ich das Frühstück, unangetastet auf einem Tablett angerichtet, längst entdeckt. „Iss doch was! Für mich, ja!?“
Ich konnte Dounja damit ein kurzes Lächeln entlocken. Ich reichte ihr die Tasse mit Tee. „Für den Anfang!“ Und als sie keine Anstalten machte danach zu greifen, fügte ich ein ganz liebes: „Bitte“ an.
Dounja setzte sich auf. „Ein lustiges Teil hast Du da an!“ stellte ich in Bezug auf ihren Schlafanzug fest. „Nicht wahr;“ antwortete sie, „der ist von Anna.“ Sie nahm die Tasse entgegen und da er nur noch lauwarm war, schaffte sie es, die Hälfte auszutrinken. Ich hatte inzwischen das Erdbeermarmeladenbrot in Häppchen geschnitten. Dounja liebte Erdbeeren und auch die Marmelade. Damit wurde sie von mir gefüttert.
Immerhin, die halbe Scheibe Brot und die ganze Tasse Tee. Den Rest lehnte sie ab. Dounja zog mich zu sich heran und wir umarmten uns. Dann begann sie bitterlichst zu weinen. „Ich sterbe“.
Nein, das darf nicht sein! Ich war schockiert und sprachlos. Wir hielten uns eine Ewigkeit aneinander fest. „Ein Tumor;“ schluchzte Dounja. Warum sie? „Du kannst doch nicht gehen! Wir haben uns gerade erst gefunden!“ Worte voller Verzweiflung, gerichtet an meine große Liebe. Sie konnten nur einen Bruchteil von der Betroffenheit und Trauer ausdrücken, die in mir herrschte.
Dounja lud mich zu sich unter die Bettdecke ein. Natürlich schlug ich diese Einladung nicht aus. Dann begann sie, sehr gefasst, taff und nüchtern zu erzählen. Ihre Bauchschmerzen, auf der Fähre zurück war der erste heftige Schub, wurden durch einen Tumor ausgelöst. Ihre Tochter hatte die Rettung gerufen, weil es ihr nach ihrem Eintreffen in Wien so schlecht ging. In der Uniklinik hatten sie dann relativ schnell die Ursache gefunden. Ein Tumor an der Bauchspeicheldrüse. Es folgten mehrere Untersuchungen. Sogar ein zweiter Professor einer anderen Klinik wurde hinzugezogen. Dounja gab mir einen kleinen Stupser und bemerkte: „Den Mann, den ich in Wien kennengelernt hatte!“ Sie brachte sogar ein Lächeln hervor. Beide hätten ihr abgeraten, eine Chemo zu machen. Es würde ihr Leiden nur verschlimmern. Einige Organe sind bereits in Mitleidenschaft gezogen. „Die sagen, ich habe noch ein halbes Jahr.“ Meine Geliebte sah mich verzweifelt an. „Zum Ende hin mit viel Morphin.“ Ich konnte sie nur an mich drücken. Wie tröstet man einen todkranken Menschen?
„Und Du?“ fragte sie wie aus dem Nichts. „Hast Du inzwischen eine Neue?“
„Sagen wir eine Wiedergefundene!“ Zum wievielten Male drückten wir uns inzwischen? Egal. Ich musste und wollte ihr zeigen, welche emotionale Verbundenheit zwischen uns herrschte. Ein wenig vorwurfsvoll meinte ich dann: „Weder Enissa noch Anna hat was gesagt!“
„Ja,“ Dounja grinste sogar ganz kurz, „ich weiß, dass Du nach mir gefahndet hast. Aber auf die Zwei kann ich mich verlassen!“ Dann erklärte sie mir tränenreich ihre Entscheidung, dass ich sie nicht so leidend in Erinnerung behalten sollte.
„Du wirst mich jetzt nicht mehr los! Für Dich würde ich alles tun!“ versicherte ich meiner Geliebten. „Und ich bin für Dich da! Und wenn Du wirklich gehen musst,“ ich unterbrach meinen Satz, weil er so schwer über meine Lippen kam, „werde ich bei Dir sein!“
„Okay, ich nehm Dich beim Wort!“ Dounja ging es sichtbar besser als bei meinem Eintreffen. Sie fragte: „Würdest Du mich mitnehmen? Ich gehe Anna schon viel zu lange auf die Nerven.“
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