Der knallrot lackierte Kleinbus des Fernsehteams kämpfte sich tapfer die Serpentinen hinauf. Das im Navigationsgerät eingegebene Ziel war ein kleines Bergdorf, relativ hoch am Fuße der Kärntner Alpen gelegen. Es war Anfang Dezember an einem klaren, sonnigen Vormittag. Jenseits der Straße türmte sich der Schnee, der auch die schon kahlen Aste und Zweige unzähliger Bäume und Sträucher bedeckte. Bei den vier Insassen des fabrikneuen Fahrzeugs handelte es sich um zwei Frauen und zwei Männer. Am Steuer saß Kurt, der für den Bus Verantwortliche und Reiseleiter der Gruppe. Auf dem Beifahrersitz spielte Jürgen, der Kameramann, auf seinem Smartphone herum. Die Männer arbeiteten schon lange zusammen, während die beiden Frauen das erste Mal mit ihnen fuhren. Der Produktionsleiter mischte die Teams fast jedes Mal neu. Er glaubte, dass dies ein probates Mittel sei, um etwaiger Kumpanei unter den Mitarbeitern entgegen zu wirken. Die Verantwortung für diese Sendung übertrug er den beiden, jungen Reporterinnen, die ein erfolgreiches Gespann bildeten.
Raphaela und Michelle lümmelten auf der breiten Rückbank des Busses, jede in ihrer eigenen Gedankenwelt versunken. Alpenländisches Brauchtum war der Titel dieser erfolgreichen Reihe, die in den Regionalsendern der Öffentlich Rechtlichen ausgestrahlt wurde. In diesem Fall ging es um den sogenannten Krampus-Lauf, der hier jedes Jahr am Abend des fünften Dezembers stattfand – dem Vorabend des Nikolaustages. Der Krampus ist einer jener vorchristlichen Figuren, die den Menschen helfen sollten, die langen, unwirtlichen Winter zu vertreiben. Mit seinen Glocken und Schellen, die bei jeder Bewegung ohrenbetäubend rasseln, schlägt er den eisigen Frost in die Flucht. Die armen Bauern in den Bergdörfern verehrten diesen teufelsfratzigen, haarigen Gesellen. Zu Ehren des Krampus fanden bald die ersten Läufe statt, bei denen als Krampus verkleidete Männer durch die Dörfer zogen. Im Laufe der Jahrzehnte mutierte er zu einer Figur der Adventszeit, quasi ein Antipol des Nikolaus. Dabei verschmolz er mit den sogenannten Perchten, die dazu auserkoren waren bösen Menschen für deren Verfehlungen die verdiente Strafe zu verabreichen. Der Krampus wurde zum Vollstrecker des gütigen Nikolaus, begleitete ihn in der Vorweihnachtszeit. Ein höllischer Knecht Ruprecht der Alpen, wenn man so will. Um es kurz zu machen: der garstige Krampus bestraft die Unartigen, der heilige Nikolaus belohnt die Braven! Bei den Krampusläufen machen sich die rutenschwingenden Jungs einen Jux daraus, unbeteiligte Zuschauerinnen einzufangen und mit sich zu ziehen. Meist trifft es jüngere, hübsche Frauen, die dann mit den Ruten leicht auf den Hosenboden gehauen werden. Dieser Brauch hält bis heute an, wenngleich er im Zuge der Me Too – Bewegung etwas in Verruf geraten ist. Es ist wie mit allem im Leben: man(n) sollte es halt nicht übertreiben!
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