Ganz anders als Raoul, der vermutlich nichts anderes tat, als Personen zu schützen oder Sport zu treiben. Seine Arme, die aus den Ärmeln des engen T-Shirts ragten, waren pure Muskelberge, seine Oberarme in etwa so dick wie meine Oberschenkel. Sein Hals bestand aus Muskeln, was ihn zu einem Stiernacken machte. Ich erwischte mich dabei mir auszumalen, wie sein Oberkörper wohl aussehen mochte. Ganz viel malen musste ich nicht, denn der Stoff seines Shirts umspannte sein Sixpack und seine muskulöse Brust wie eine zweite Haut. Es hätte der Optik sicher nichts geschadet, wenn das Teil wenigstens eine, besser sogar zwei Nummern größer ausgefallen wäre. Zumal es bei seiner Größe von geschätzten eins neunzig auch noch schicker ausgesehen hätte. So wirkte es wie eine Wurstpelle.
Wie sagt man: Je größer die Muskeln, desto kleiner die Eier und der Schwanz? Ich musste schmunzeln, als mir der Spruch von Ela einfiel, den sie beim Ansehen einer Bodybuildingshow abgelassen hatte. Es war wie magnetisch, aber meine Augen wanderten automatisch über seine Hose, versuchten Umrisse zu erkennen, die Rückschlüsse auf seine Größe zuließen. Ich fand keine. Weder von seinen Klöten, noch von seinem Riemen, also musste an dem Spruch wohl was dran sein. Ich hatte nach dem Abend mit Ela mal gegoogelt und dort stand, dass das an den Muskel-Aufbaupräparaten und den zusätzlich geschluckten männlichen Hormonen liegen könnte, zusätzlich gepusht durch sehr viel eiweißreiche Nahrung. Wäre ich ein Mann, mir wäre ein schöner, geiler, strammer Schwanz und dicke Eier lieber, als ein paar sehr gut definierte Muskeln am ganzen Körper.
Mir würde reichen, was man mit etwas Training und guter Ernährung hinbekommen konnte. Aber so setzte jeder seine eigenen Prioritäten. Dieser Mann passte sehr wohl in das Bild eines Personenschützers, oder vielleicht noch Türsteher vor einer Nobeldisco.
„Darf ich vorstellen, das sind Shiva und Raoul. Beide kommen aus Florida und sind echte Profis auf ihrem Gebiet. Keine Sorge, beide sprechen perfekt deutsch. Shiva, Raoul, mich kennt ihr ja schon, das sind Franzi, die gute Seele des Hauses und Josie, meine Freundin. Und der Zwerg hier, ist mein Sohn Falk. Und nun macht euch mal locker, wir sind hier nicht beim CIA.“
Es sah irgendwie komisch aus, wie beide mit hüftbreit auseinandergestellten Füßen und Händen auf dem Rücken vor der Glastür standen. Mit versteinerter, ernster Miene, völlig regungslos, wie Zinnsoldaten.
Zwischendurch sah ich die Brustmuskeln von Raoul zucken. Es war lustig, wie die deutlich sichtbaren, kleinen Nippel hinter dem strammen Stoff kurz nach oben sprangen. Unsicher sahen sich Shiva und Raoul an. Man konnte gut erkennen, dass sie nicht gewohnt waren, in lockerer Atmosphäre zu arbeiten.
Während ich noch überlegte, ob unsere Gäste wohl ein Paar waren, bestimmte Chris den weiteren Ablauf.
„Shiva, du kümmerst dich heute um Josie, fährst mit ihr in ihre Wohnung und später noch in die Stadt. Franzi, du schnappst dir Raoul, fährst einkaufen, und wenn du wieder da bist, muss ich noch mit ihm in die Firma. Dann sehen uns alle heute Abend zum Abendbrot hier wieder.“
Danach zog er sich Falk auf seinen Schoß, legte seine Arme um seinen kleinen Körper und drückte ihn an sich.
„Und wir beide machen uns einen schönen Vormittag, was hältst du davon?“
Falk grinste breit über beide Wangen und freute sich wie ein kleines Kind, das er ja nun mal war.
Meine Frage, ob Shiva und Raoul nun ein Paar waren oder nicht, blieb also noch ungeklärt. Aber ich nahm mir fest vor, das mit meiner Begleiterin zu klären. Es war immer gut, wenn man etwas mehr über seinen ‚Schatten‘ wusste, der einen in nächster Zeit begleiteten sollte.
Franzi guckte ein wenig bedrabbelt aus der Wäsche. Sie wäre bestimmt auch lieber mit Shiva losgefahren, als mit diesem Schrank von Kerl, fügte sich aber ihrem Schicksal. Er folgte ihr wie ein Hund, als sie ins Haus ging.
„Nun steh da nicht so steif rum, setz dich zu mir.“, winkte ich Shiva zu und klopfte auf den Sessel neben mir.
Ich war neugierig auf sie. Sie hatte etwas katzenhaftes, war geschmeidig in ihren Bewegungen, als sie auf mich zukam.
Sie machte mich neugierig auf sich, ohne dass sie bisher ein Wort gesagt hatte. Allein ihre Gestalt, die schwarzen Haare, die wenig farbenfrohe, schwarz-graue Kluft, die dunklen Augen, alles an ihr machte sie geheimnisvoll.
Sie setzte sich mit unangemessener Zurückhaltung, die ebenso unnötig wie unangebracht war und sah mich erwartungsvoll an. Keine Ahnung, worauf sie wartete, aber es gab mir Zeit zu sehen, dass sie grüne Augen hatte. Da war es wieder, das katzenhafte.
„Shiva … schöner Name, wo kommt er her?“, lächelte ich sie an.
„Meine Großeltern und meine Mutter waren tamilischer Herkunft. Sie sind damals aus Sri Lanka hierher gekommen. Dort nennt man so eine Hindu-Gottheit.“, erzählte sie in akzentfreiem Deutsch.
„Und wie bist zu zum Personenschutz gekommen?“
„In den USA. Ich bin dort nach meinem Auslandsjahr hängengeblieben. Kampfsport interessierte mich schon immer. Kung Fu, Karate, Judo, Sie wissen schon …!“
„Stop, stop, stop! So wird das nichts.“, legte ich ihr eine Hand auf den Unterarm, „Ich heiße Josephina. Alle nennen mich Josie, und ich werde stinkesauer, wenn du mich ‚siezt‘. Ich sage Shiva und ‚du‘, und ich will, dass du mich auch duzt und Josie nennst, klar?“, stellte ich mit bestimmendem Gesichtsausdruck klar.
„Ok, Josie … das ist neu für mich, sonst sind wir nie so eng mit unseren Auftraggebern. Also … wie gesagt, Kampfsport. Später kamen Waffen dazu. Kriegt man ja alles kinderleicht in den Staaten. Ich hatte keine Pläne, keine Ziele, was lag näher, das Sinnvolle mit dem Nützlichen zu verbinden. Das Hobby zum Beruf zu machen, sozusagen. Da habe ich auch Raoul kennengelernt. Seitdem halten wir uns mit Jobs wie diesem über Wasser.“
„Klingt interessant. Aber irgendwie auch nach einem ungeregelten Einkommen. Für mich wäre das nichts.“
„Raoul und ich lieben das freie Leben, ohne Zwänge. Wenn wir Geld brauchen, gehen wir arbeiten, wenn nicht, lassen wir die Seele baumeln. Das ist ganz angenehm.“
„Auslandsjahr sagst du, du bist nicht in den USA geboren?“
„Nein, mein Vater war Soldat in Deutschland und hat hier meine Mutter kennengelernt. Wir sind dann als Familie rüber, als er seine Dienstzeit abgeleistet hatte. Zwischendurch hatte ich durch die Kontakte meines Vaters das Auslandsjahr machen können.“
„Und dein Deutsch?“
„Kommt von meiner Mutter. Ihr war es immer wichtig, mich zweisprachig aufzuziehen.“
„Vermisst du sie?“
„Manchmal schon, aber wir telefonieren viel, weil sie verständlicherweise echt Angst um mich hat.“, zuckte Shiva mit gesenktem Blick auf den Boden. „Aber nun zu dir, was machst du so, wo muss ich besonders aufpassen? Wir sollten deinen Tagesablauf besprechen, das wäre wichtig für mich.“
„Ja klar, das machen wir! Das ergibt sich heute sicher noch, wir werden ja ne ganze Weile zusammen sein. Heute Morgen will ich in meine Wohnung, Wäsche tauschen, waschen, Staub wischen. Dann will ich noch in die Stadt, Drogerie, Frauenhygiene und so Zeugs besorgen.“
„Und wann wolltest du los?“
„Genau jetzt!“
Ich wuchtete mich aus dem schweren Sessel und zog Shiva so gut es ging mit hoch. Leichter gesagt als getan, dieser Körper war schwerer, als es nach außen den Anschein hatte. Vermutlich bestand dieser sagenhafte Body, ähnlich wie der von Raoul, nur aus Knochen und Muskeln. Chris grinste uns an, freute sich innerlich darüber, dass die Chemie zwischen uns Frauen schon mal zu stimmen schien.
Ich beugte mich zu ihm und Falk runter, drückte beiden ein Küsschen auf und verabschiedete mich.
„Ciao Schatz, bis heute Abend. Liebe euch!“, strich beiden über’s Haar und ging mit Shiva ins Haus.
Draußen hörte ich schon den Rover über den Kiesweg rollen. Franzi und Raoul waren also schon einen Schritt weiter als Shiva und ich, weil ich meine Taschen noch holen musste, als draußen ein scharfer Knall zu hören war. Shiva rannte die Stufen hinunter, durchquerte mit langen Schritten die Eingangshalle und lief in gebückter Haltung den Kiesweg entlang, nutzte jede Form der Deckung. In ihrer Hand blitzte es metallisch glänzend. Der Pistolenlauf folgte ihren Blicken, mit denen sie das Gelände absuchte.
Raoul und Franzi hatten sich, tief gehockt, hinter der Mauer verschanzt. Franzi hielt sich die Hände vor’s Gesicht, das erkannte ich sogar aus dem Hauseingang heraus, wo ich mich hinter der schweren Tür klein gemacht hatte.
Raoul unterhielt sich mit Shiva, die mittlerweile auch die Mauer erreicht hatte. Die Türen vom Rover standen sperrangelweit auf, der Motor lief noch, nur aus der Motorhaube stieg weißer Rauch auf.
„Was ist passiert?“, stand plötzlich Chris leichenblass neben mir.
„Keine Ahnung! Es hat geknallt, Shiva ist rausgerannt und als ich mich getraut hab, hinzusehen, hockten sie alle hinter der Mauer.“
„Verdammt, die machen ernst!“, murmelte er und verzog sich in den Schlagschatten der Tür.
Sofort hatte er sein Handy in der Hand und telefonierte mit der Polizei. „Sie machen ernst …“, sagte er. Der Satz machte mir Angst, richtig Angst!
Ich beobachtete, wie Raoul zum Rover hastete und den Motor ausstellte. Franzi wollte nicht aufstehen. Ich sah, wie sie sich mit Händen und Füßen wehrte, sich mit Absicht schwer machte, wenn die Bodyguards ihr auf die Füße helfen wollten. Irgendwann gaben sie auf und setzten sich neben sie in den Kies.
Von irgendwo näherten sich einige Martinshörner, die schnell dichter kamen. Drei Polizeiwagen und zwei schwarze Geländewagen der Kripo mühten sich durch die breite Hofeinfahrt, in der das schwere Tor noch immer weit offenstand. Mit dem Knall, spätestens jetzt mit dem Eintreffen der Polizei, hatte sich mein Plan für den Tag mit einem Schlag in Luft aufgelöst.
Eine Eskorte aus Polizisten begleitete Franzi zusammen mit Raoul und Shiva zum Haus zurück. Die arme Frau war ein Haufen wandelndes Elend, kreideweiß, mit schlotternden Knien, mühte sie schleppend einen Fuß vor den anderen.
„Ok, jetzt reicht‘s, ihr seid hier nicht mehr sicher! Franzi, Falk und du, ihr fliegt nach Monaco und nehmt Shiva mit. Franzi kennt sich dort aus. Ich buche die Flüge und besorge euch Geld.“
„Ich fahre nicht ohne dich, Schatz, lass mich bei dir bleiben …, bitte!“
„Auf keinen Fall Kätzchen, ich setze euer Leben nicht länger aufs Spiel. Ich bin hier in der Villa sicher. Ich kann von hier aus arbeiten, kann mir Lebensmittel und was ich sonst noch brauche, liefern lassen. Hoffentlich hat das bald ein Ende!“
Chris verschwand mit dem leitenden Kommissar in sein Büro, während die übrigen Beamten mit der Spurensicherung beschäftigt waren. Franzi hatte sich bei Shiva untergehakt. Ihr ging es alles andere als gut. Viel mehr, als dass es eine altersbedingte Inkontinenz gewesen sein könnte, lief es nass ihr Bein herunter und hinterließ eine nasse Spur auf den Fliesen. Sie hatte sich vor Angst in die Hose gemacht und konnte es in ihrem Schock einfach nicht halten.
„Geschossen …, die haben auf mich geschossen …, die wollten mich umbringen … geschossen …!“, stammelte sie kaum verständlich mit kaltem Schweiß auf der Stirn.
„Es stimmt, was sie sagt. Man hat knapp unterhalb der Motorhaube in den Kühler geschossen. Zwanzig Zentimeter höher, und es hätte Raoul erwischt. Die konnten ja nicht wissen, dass niemand aus der Familie am Lenkrad saß.“, stützte sie Franzi beim Hinsetzen, „Wir werden nun auch nicht mehr in die Stadt fahren, dass sollte klar sein. Zumindest nicht, bis die Kripo grünes Licht gibt.“
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.