„Ich weiß auch nicht, Herr Berger. Das Lernen fällt mir nicht mehr so leicht, wie früher. Aber einen bestimmten Grund gibt es nicht. Ich muss ja nicht unbedingt mit der Bestnote abschließen, oder?
Ich denke, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt. Finden sie nicht auch? Die Liebe zum Beispiel…“
Paul musste schlucken. So kannte er Anita gar nicht. Er betrachtete sie eingehend. Das mittelgroße Mädchen stach nicht besonders hervor, was auch an ihrer etwas langweiligen Kleidung lag. Anita trug meistens Jeans, die sie mit grauen Pullovern kombinierte. Paul fand sie sehr hübsch, auf eine unauffällige Weise. Ein Verdacht keimte auf: sehnte sie sich danach, endlich richtig dazuzugehören? Das schien ihm plausibel, würde ihr merkwürdiges Verhalten erklären. Paul lächelte ihr aufmunternd zu, während er sie mit klaren Worten aus der Reserve lockte. Sie hörte ihm aufmerksam zu.
„Hör zu, Anita! Schau, dass du wieder deine Leistung abrufst. Du bist überdurchschnittlich intelligent und es wäre eine Schande, wenn du dir dein Abitur vermasselst. Ich sehe mir das nicht mehr sehr lange an. Sollten deine Noten nicht bald auf dem alten Stand sein, werde ich dich bestrafen müssen!“
Das saß! Anitas blasses Gesicht gab Paul beredt Auskunft über ihr Gefühlsleben. Das Mädel wollte nicht länger die Außenseiterin sein, die sie ja gar nicht war. Aber sie schien sich genauso zu fühlen.
Anitas Hosenboden kribbelte, als ihr Paul diese Sanktion androhte. Errötend murmelte sie:
„Ja, ist gut! Ich werde mich wieder mehr bemühen, Herr Berger. Ich will ja nicht versohlt werden…“
Paul nahm ihr diese glatte Lüge sogar ab, da Anita durchaus glaubhaft wirkte. Er war zufrieden mit dem Gespräch, ordnete es als erfolgreich ein. Anita ebenfalls, aber aus anderen Gründen. Ihr Plan ging langsam auf. Als sie sich verabschiedeten, strich sich Anita mit den Fingern über den Po. Paul bemerkte es nicht einmal, was sie sehr kränkte. Jetzt stand für Anita fest, dass sie es kriegen musste!
Drei Wochen später unterrichtete Berger die 12 A in Englisch. Er hatte den Schülern einen Text zum Übersetzen gegeben. Es war nichts besonders Schwieriges, jedenfalls nicht für eine Schülerin wie Anita. Sie war die mit Abstand beste in Englisch, übersetzte solche Texte in Nullkommanix. Heute zögerte sie, schien sich nicht konzentrieren zu können. Als Berger die Blätter nach 20 Minuten zurückhaben wollte, war sie nur mit zwei Drittel der Übersetzung fertig geworden. Der Lehrer konnte es nicht fassen, als er die Blätter durchsah. Selbst Maria lieferte ein besseres Resultat als Anita ab. Die saß wie ein Häufchen Elend in der Bank, blickte dabei gedankenverloren aus dem Fenster.
Paul spürte, dass er sie aufwecken musste. Er wusste genau, dass es richtig sein würde. So sicher war es sich noch nie. Paul Berger räusperte sich, was er äußerst selten tat. Alle spürten, dass etwas kam.
„Anita! Deine Übersetzung ist fehlerhalft und nicht einmal komplett. Du weißt, was wir neulich besprochen haben. Steh jetzt auf und dann kommst du nach vorne. Du wirst eine Strafe bekommen!“
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