Dann entspannte sich die Situation wieder, alle waren erneut zufrieden, alle waren glücklich, das Bandoneon spielte nun solo, und da der junge Mann nicht sehr viele Stücke kannte, gab es zahlreich Wiederholungen, das störte aber niemanden. Doch diese sanfte Atmosphäre hielt nicht lange an. Zwei der Anwesenden gerieten aus nichtigem Anlass in Streit. Es ging um einen letzten Schluck aus der Whiskyflasche, den beide für sich beanspruchten. Das Wortgefecht wurde immer heftiger, die Streithähne schrien immer lauter, schickten sich schon an, aufzustehen und handgreiflich zu werden, da kam dem Präsidenten die rettende Idee. Er rief der Frau etwas zu, was im Geschrei der beiden Kampfhähne fast unterging, aber sie verstand und nickte, deutete aber in Richtung des Weidenkörbchens auf der Kommode. Der Alte nickte beruhigend und bestätigend, nahm dann ein leere Flasche und setzte sie heftig auf den Tisch. Augenblicklich war Ruhe und auch die beiden Schläfer hatten erschrocken die Augen aufgerissen. Sie kämen nun zum Höhepunkt des Abends, verkündete der Präsident und da sei weder Streit noch Schlaf angebracht, alle sollten sich gefälligst zusammenreißen und ruhig sein und aufpassen, damit ihnen nichts entgehe. Die so Verdonnerten schwiegen sofort. Dann machte der Präsident eine galante Verbeugung in Richtung der Frau und gab dem Bandoneonspieler ein Zeichen. Während ganz leise „Besame mucho“ erklingt, steigt die Frau auf den Tisch.
„Küss mich, küss mich so leidenschaftlich, als wäre es heute Nacht das letzte Mal“. Die Frau stampft mit ihren hochhackigen, goldfarbenen Schuhen heftig auf die Tischplatte, stellt sich provokativ in Positur, die Beine parallel, die Hüfte leicht versetzt, den Hintern nach hinten, die Brust nach vorne gereckt, die Arme in die Hüfte, den Kopf hoch erhoben. So verharrt sie endlos lange Augenblicke. Ihr Blick wandert von einem Mann zum andern, alle Sanftheit ist verschwunden, nur noch Leidenschaft, ja geradezu Wut, ist darin enthalten. „Küss mich, küss mich so leidenschaftlich als hätte ich Angst, dich zu verlieren.“ Langsam fängt ihr Körper an, sich zu bewegen, einen Fuß nach links, den anderen nach rechts, eine halbe Drehung des Körpers, eine Verlagerung des Hüftknicks in die entgegengesetzte Richtung. Sie wirft den Kopf in den Nacken, der Blick richtet sich zur Decke, er scheint durch die Bohlen, durch das Wellblech hindurchzudringen, bis zum Himmel empor. Dann eine plötzliche Drehung um die eigene Achse, ein Vibrieren geht durch den Körper, alles Fleisch erzittert, der Busen, der Bauch, der Po, während das Bandoneon schluchzt: „Küss mich, küss mich so leidenschaftlich, als wäre es heute Nacht das letzte Mal.“ Dann erstarrt sie zunächst, fängt aber gleich an, sich langsam zu drehen, langsam auf der Platte herum zu stolziert und dabei schiebt sie erst einen, dann den anderen Träger des Kleids über die Schultern. Beide Hände umfassen ihre Brüste, als müsse sie das rote Kleid festhalten, es daran hindern, den Körper vorzeitig hinabzugleiten, vorzeitig die gewollte Enthüllung zu vollenden.
Wie immer
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