Wieder auf Los

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Wieder auf Los

Wieder auf Los

Abdullah Quasseem

Ich hatte meine Vorstellung bei der Arbeitsagentur pflichtgemäß absolviert, mir zur Feier des Tages bei meinem Lieblingsveganer ein kostspieliges, aber dafür superdelikates Mittagessen gegönnt und war am Nachmittag ziellos durch die Stadt geschlendert. Für Mitte April war es schon erstaunlich warm. Frühling und Neuanfang lagen überall spürbar in der Luft. Es strahlte aus den Gesichtern der Menschen und es fühlte sich gut an wie nie zuvor, mich wieder ungehindert unter ihnen bewegen zu können. Noch mehr genoss ich es, mir bei einer ausgedehnten Pause am Königsbau der Residenz, die milde Frühlingssonne ins Gesicht scheinen zu lassen und, eine Flasche Augustiner in der Hand, die Wärme ihrer Strahlen zu spüren, solange ich wollte. Von Minute zu Minute fühlte ich mich freier im Kopf.
Bei einem anschließenden Schaufensterbummel wollte ich mich wenigstens über die neuesten Trends informieren, wenn ich mir schon nichts kaufen konnte. Mehr als ein paar Euro in die unverzichtbarsten Kosmetika zu investieren, traute ich mich nicht. Mit dem wenigen Geld, das sie mir ausbezahlt hatten, musste ich erst mal streng haushalten, bis sich wieder neue Perspektiven eröffnen würden.
Jetzt saß ich in der vordersten Reihe eines S-Bahn-Waggons entgegen der Fahrtrichtung, „mit dem Rücken zur Wand“, dachte ich ein wenig bitter, und fuhr zurück nachhause. Aber was hieß das? Lena, eine der wenigen Freundinnen, die mir in der ganzen Zeit noch die Treue gehalten hatten, hatte mich zunächst bei sich in ihrer kleinen Wohnung aufgenommen. Sie hatte mir das zweite, kleinere Zimmer freigehalten, nachdem ihre bisherige Mitbewohnerin ein paar Wochen zuvor ausgezogen war. Das war jetzt erst mal mein Zuhause. Eine Übergangslösung, aber um so vieles besser, als im Haus meiner Eltern um Unterschlupf bitten zu müssen, über das ich nach ihrer Überzeugung Schimpf und Schande gebracht hatte. Die Demütigung, mich, die gestrauchelte Tochter, der spießigen Nachbarschaft präsentieren zu müssen, wollte ich ihnen – und mir – gerne ersparen.
Vom vielen Laufen in den Sandalen mit den hohen Absätzen, für die ich mich aufgrund des schönen Wetters entschieden hatte, taten mir die Füße weh und ich war froh, gerade noch den letzten freien Sitzplatz in dem rappelvollen Waggon ergattert zu haben. Bis zu der Vorortstation, zu der ich musste, würde die Bahn gut eine halbe Stunde brauchen und ich hatte keine Lust, während der ganzen Fahrt stehen zu müssen und ständig herumgeschubst zu werden.
Je mehr Innenstadthaltestellen der Zug hinter sich ließ, desto mehr lichtete sich das Menschengewühl auf den Bahnsteigen und das Gedränge im Wagen. Als die beiden Plätze mir gegenüber frei wurden, nahm dort ein junger Typ Platz, der mir schon vorher aufgefallen war, als er, noch lässig an die Trennscheibe gelehnt, neben der Tür gestanden hatte. In auffälligem Gegensatz zu den meisten übrigen Fahrgästen, die die Fahrt mit einer beinahe apathisch gelangweilten Routine absolvierten, wirkte er aufgeweckt und freundlich, unterhielt sich mit anderen oder machte einen kleinen Scherz, wenn jemand bei einem Ruckeln aus dem Gleichgewicht geriet. Außerdem sah er ziemlich gut aus und war ungefähr in meinem Alter. Obwohl ich vorgab, aus dem Fenster zu sehen und ihn nicht zu beachten, musterte ich ihn heimlich aus den Augenwinkeln und ließ meinen Blick hin und wieder, wie zufällig, über ihn streifen, wenn meine Neugier zu groß wurde. Er hatte ein markantes aber angenehmes, freundliches, glatt rasiertes Gesicht und seine dunklen Locken waren mit Haarwachs in Form gebracht. Trotz seines braven Business-Outfits - ein hellgrauer Pullover, aus dem ein gestreifter Hemdkragen hervorlugte, dunkelgraue Hosen und schwarze, polierte Schuhe – haftete ihm etwas irgendwie Ungezähmtes an. Ich fand ihn ziemlich sexy. Okay, ich muss zugeben, dass ich nach der langen Abstinenz, die hinter mir lag, wahrscheinlich leicht zu beeindrucken war, doch je länger ich ihn beobachtete, desto stärker zog er mich auf unwiderstehliche Weise an. Ich spürte, wie zunehmende Unruhe mich erfasste; mein rechter Fuß begann nervös zu wippen. Zum Glück schien er davon keine Notiz zu nehmen. Gleich nachdem er sich gesetzt hatte, hatte er sein Smartphone hervorgeholt und sich, ohne mir die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, in das Display vertieft. Ein abwesendes Lächeln erhellte gelegentlich seine Züge. Das machte ihn nur noch attraktiver.
Wir erreichten die Außenbezirke und der Wagen leerte sich jetzt zusehends. Vor der nächsten Station erhob sich umständlich die dicke Frau neben mir von ihrem Sitz. Als der Zug abbremste, geriet sie bedenklich ins Wanken und rempelte dabei den attraktiven Typ mir gegenüber mit einer ihrer prall gefüllten Einkaufstüten an, worauf ihm sein Smartphone entglitt und zuerst auf meinem Fuß, dann auf dem Boden unter meinen Beinen landete. Instinktiv bückte er sich danach, doch ich war schneller. Beinahe wären unsere Köpfe zusammengestoßen. Wir lächelten uns an. Während wir uns wieder aufrichteten, reichte ich ihm sein Handy.
„Danke sehr“, sagte er höflich und, „Entschuldigung, ich hoffe, es hat nicht wehgetan.“
„Alles gut“, antwortete ich immer noch lächelnd, „ist es noch ganz?“
Er nahm es gründlich in Augenschein, tippte ein bisschen drauf herum und sagte: „Sieht ganz so aus. Dein Fuß hat wohl den Sturz abgedämpft. Danke! Hoffentlich kriegst du keinen blauen Fleck. Wär‘ schade um den hübschen Fuß.“
Wie er mich so einfach duzte und dabei frech angrinste, machte mich noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Der Typ war echt süß. Im vorderen Abteil des Waggons waren wir inzwischen allein. Nur in den anderen Abteilen saßen noch weitere Fahrgäste. Die Situation machte mich ein wenig verlegen, gleichzeitig hatte ich große Lust auf einen kleinen Flirt. Wenn auch sonst nichts dabei herauskäme, wollte ich doch wenigstens wissen, ob es noch funktioniert.
Ich hatte mein roséfarbenes Kleid an, das Beste was ich zurzeit noch besaß. Mit weiterhin übergeschlagenen Beinen drehte ich mich etwas direkter zu ihm. Lenas kurzen, grauen Mantel hatte ich quer über meinem Schoß gelegt. Während ich ihn herunterzog und neben mich auf die Bank legte, versuchte ich unauffällig, den Saum meines Kleides ein wenig höher zu ziehen. Das müsste doch seine Neugier wecken. Ich war vielleicht kein Topmodel, aber ich wusste, ich hatte hübsche Beine und sah auch sonst ganz gut aus, auch wenn ich dringend zum Friseur musste, um meine braunen Wuschellocken wieder in Form bringen zu lassen. Lena hatte mir das gestern wieder bestätigt, in einem langen Gespräch, in dem es natürlich auch um meine erzwungene Enthaltsamkeit ging und mich wegen der Haare beruhigt. „Die coolen Jungs stehen auf so ‘ne wilde Löwenmähne“, hatte sie gemeint.
Die dezente Provokation verfehlte nicht die beabsichtigte Wirkung. Auf seinem Gesicht erschien ein verhaltenes Lächeln und ohne den geringsten Anschein von Verlegenheit ließ er seine Blicke über meinen Körper streifen: von meinen riemchenbeschuhten Füßen über meine Beine, meinen Oberkörper, ins Gesicht und wieder zurück zu meinen Schenkeln, wo er länger verhielt. Um seinen Mund zuckte es kaum merklich. „Siehst gut aus!“, sagte er mit Kennermiene, als er mir wieder direkt in die Augen sah.
Ich konnte spüren, wie ich errötete. „Danke“, erwiderte ich und atmete einmal tief durch die Nase, „du übrigens auch.“
Zurückgelehnt, mit verschränkten Armen, den Kopf ein wenig schräg geneigt sah er mich weiter mit leicht amüsiertem, selbstsicherem Blick an. Es war unschwer zu erraten, dass er gerade versuchte, mich im Geiste auszuziehen. Im Grunde hatte ich es ja genau darauf angelegt und er hörte nicht auf, mich zu fixieren. Seinem Blick konnte ich nicht lange standhalten. Meine Augen irrlichterten unstet umher, sahen mal zu ihm, mal auf den Boden, mal irgendwohin.
Aber es tat unglaublich gut, zu spüren, dass meine Verführungskünste bei ihm verfingen. Er musterte mich ununterbrochen, besonders meine Beine, auch wenn er sich Mühe gab, es nicht zu deutlich zu zeigen. Er hatte angebissen und es gefiel mir. Es reizte mich ungemein, das Spiel ein bisschen weiter zu treiben. Ein paarmal veränderte ich meine Sitzhaltung, setzte mich ein wenig in Pose, versuchte allerdings zu vermeiden, es nach allzu offensichtlicher Anmache aussehen zu lassen. Ein schelmisches Blitzen erschien in seinen Augen, während er mich weiter genüsslich betrachtete. Die heimliche, erotische Spannung zwischen uns wurde fast greifbar. Ich stellte mir vor, wie es ihn erregte und er hart wurde und das machte mich richtig geil. Zwischen meinen Beinen verbreitete sich immer intensiver ein wärmendes Pulsieren. Ich hoffte, man konnte mir nichts ansehen, wusste aber bereits: Wenn sonst nichts lief, würde ich es mir nachher eben wieder selber machen. Während meine ganze Aufmerksamkeit zunehmend von dem unablässigen Pochen in meiner Muschi beansprucht wurde, versuchte ich, ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen und hoffte nur, dass es gerade nicht unheimlich dämlich wirkte.
„Ich heiße Daniel“, löste er schließlich das zwischen uns eingetretene Schweigen wieder auf.
„Moni“, antwortete ich, erleichtert endlich etwas Unverfängliches sagen zu können.
„M-o-n-i!“, wiederholte er mit langer Betonung der Vokale, so als hätte er so einen exotischen Namen noch nie zuvor gehört, „ein hübscher Name. Klingt so weich. Passt gut zu dir.“ Wie zur Bestätigung dieser tiefschürfenden Erkenntnis nickte er mir ein paar Mal mit so einem hintergründigen Lächeln zu. Wollte er mich gerade anbaggern? Nur zu, ich würde es ihm nicht allzu schwer machen.
„Wie weit fährst du?“, fuhr er fort.
Ich nannte ihm die Haltestelle. Noch drei Stationen.
„Ah!“, reagierte er, „das trifft sich gut. Da steige ich auch aus.“ Er schien sich wirklich darüber zu freuen.
Ja, es traf sich gut. Mir war es jedenfalls ganz recht. Wenn er auch in der Gegend wohnte, konnte sich vielleicht ja noch was entwickeln. Bevor wieder ein peinliches Schweigen einsetzte, fragte ich ihn einfach, ohne lange nachzudenken: „Und, was machst du so?“
„Ach ja, das Übliche halt“, antwortete er, „Software-Entwickler – im Automotive-Bereich …“
„Also was mit Autos?“, hakte ich ein.
„Ja“, sprach er weiter, „wir entwickeln Systeme für autonomes Fahren und vernetzte Verkehrssysteme, verstehst du. Ist ‘ne echt spannende Sache und ganz ordentlich bezahlt.“ Er lächelte dabei selbstzufrieden, blickte an sich hinunter und fuhr, fast entschuldigend, fort: „Hatte heute ‘ne Kundenpräsentation. Sonst herrscht da kein besonderer Dresscode. Und du?“
„Ich?“ Wie blöd war ich doch gewesen, dieses Thema anzuschneiden? Logisch, dass ich mit dieser Gegenfrage rechnen musste. Ich ertappte mich dabei, wie ich nervös an meiner Unterlippe kaute. Für einen Moment dachte ich daran, mir Lenas Lebenslauf anzueignen, ich sei Architekturstudentin im letzten Semester und all das. Aber was, wenn er sich für Details interessierte? Und es wäre doch feige. Außerdem kannte ich den Typ nicht, würde ihn vielleicht nie wieder sehen. Es war auch eine Mutprobe und ein Test. Sollte er denken, was er wollte. Also entschied ich mich für die Wahrheit.
„Ich komm‘ gerade frisch aus’m Knast“, sagte ich mit gesenkter Stimme, wobei ich mich etwas zu ihm vorbeugte.
„WAS?“, reagierte er ungläubig. Auch er hatte sich mit weit offenem Mund und einem Ausdruck echten Entsetzens zu mir vorgebeugt. „Nee“, sagte er wieder entspannter, „du verarschst mich. Jetzt sag‘ mal ehrlich …“
„Stimmt aber.“ Ich sah ihm fest in die Augen und zuckte mit den Schultern. „Bin seit gestern Morgen um acht wieder draußen; war zwei Jahre im Bau.“
„Du?“, staunte er immer noch ungläubig, „das kann ich mir bei dir überhaupt nicht vorstellen … so nett wie du bist und auch noch so hübsch; also echt jetzt, ohne Scheiß?“
„Hab‘ da ‘ne Menge Leute kennengelernt, denen man das nicht ansieht. Da sitzen nicht nur welche, die überall mit Tattoos voll sind und mit Piercings gespickt oder so …“
„Mann!“, sagte er kopfschüttelnd, leise, „du und Gefängnis? Wahnsinn!“ Er machte eine kleine Pause und lachte ein wenig. „Weißt du, dass du die erste Frau mit Knasterfahrung bist, die ich kennenlerne?“
Ich zuckte erneut ratlos mit den Schultern und musste unwillkürlich lachen. Irgendwie fühlte ich mich erleichtert; es war doch gar nicht so schlimm gewesen. Immerhin sah er mich noch immer freundlich an.
„Und für was?“, bohrte er nach.
„Cannabis,“, antwortete ich jetzt ruhig, „Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Wurde an der Schweizer Grenze mit 380 Gramm Gras erwischt. Ein schwerer Fall der den Rahmen einer Bewährungsstrafe deutlich übersteige, hat der Richter gesagt, meine Jugend und meine bis dahin untadelige Lebensführung als mildernde Umstände gewertet und mir drei Jahre gegeben. Zwei hab‘ ich abgesessen. Rest auf Bewährung. Jetzt muss ich erst mal sehen, wie ich wieder zurechtkomme. Ist nicht lustig, wenn du’s wissen willst …“
„Poahh, Scheiße!“, entfuhr es ihm, „aber das ist halt Bayern. Da buchten sie dich wegen sowas gleich ein. In Berlin würde wahrscheinlich kein Hahn danach krähen. Dabei macht das heute doch fast jeder. Ich meine, ich dübel ja auch mal einen, ab und zu … Hier müssen wir raus!“
Am Bahnsteig stand ich ihm nochmal gegenüber. Er sah immer noch scharf aus, war einen halben Kopf größer als ich, einsfünfundachtzig schätzte ich. „Also tschüss dann“, sagte ich, „vielleicht fahren wir ja mal wieder zusammen, wenn du auch hier draußen wohnst. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“ Damit wandte ich mich um und musste gegen eine Träne der Enttäuschung ankämpfen, weil meine kleinen, heimlichen Tagträume so schnell wie Seifenblasen wieder zerplatzt waren. Am liebsten hätte ich mich ihm an den Hals geworfen. Er war so sexy und dazu noch nett. In meinem Schritt pochte es so heftig, dass ich kaum noch anständig laufen konnte. Ich wusste schon, was ich zuhause gleich machen würde.

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