Wie man einen Engel fängt

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Wie man einen Engel fängt

Wie man einen Engel fängt

Viktoria Tsiffa

Im Spätsommer, wenn die Nachmittagssonne ihr sinnliches Rot an die Häuserwände schmiert, dann kann man ihre kleinen, nackten Füße über alte Schindeldächer trippeln hören. Und wenn gerade niemand hinsieht, kriechen ihre zarten, blassen Körper aus weißer Seide die Fassaden alter Häuser hoch. Vornehmlich in Wohngegenden in denen sehr alte Gebäude stehen, hallt ihr leises Flüstern verführerisch durch alte, enge Gassen. In Gegenden, an denen die Zeit nur sachte vorbeigeschrammt ist, Orte, an denen Uhren leiser und langsamer ticken, da fühlen sie sich wohl. Die Engel.Jedes Jahr um diese Zeit versammeln sie sich auf den Dächern, wie Zugvögel, um gemeinsam aufwärts zu fallen. Um entgegen der Schwerkraft in den Himmel zu stürzen. Den ganzen Herbst über verbringen sie, wie Kinder spielend, über den Dächern der Stadt.
Wundern Sie sich also bitte nicht, wenn sie ein engelsgleiches Mädchengesicht vor ihrem Fenster sehen, im fünften Stockwerk, wenn es von draussen neugierig in ihre Wohnung hineinblickt und Sie beobachtet. Genießen Sie den Anblick, sollten sie eines dieser zarten Geschöpfe im Gegenlicht der späten Sommersonne über Dächer tanzen sehen. Verschrecken Sie die Mädchen nicht, die manchmal nackt und verwirrt durch verlassene Hinterhöfe trippeln. Das sind nur Engel, die ihren Weg nach oben suchen.
Wenn man sich als Sterblicher mal so richtig fallen läßt, Vergangenes vergißt, keine Zukunft fürchtet, sich im Moment verfängt, dann öffnen sich Augen hinter den Augen, die sonst nur das Gelernte, Altbekannte sehen. In diesem Zustand absoluter Offenheit kann man sie dann sehen. In hauchfeinen Babydoll-Nachthemden oder auch in durchsichtige blaue Seide gehüllt kann man sie dann in großen Scharen auf Dächern und Kaminen sitzen sehen. Nur eine reine Seele kann ihr Lachen und Flüstern hören, eher fühlen.
Das erste Mal, als ich Engel sah, das war auf meinem Flug nach New York. Ich saß, wie gewohnt, am Fenster. Weil ich so gerne gottgleich auf die Welt da unten herabsehe. Ein wirklich schlimmes Jahr hatte mein Ego so wundgeschürft, dass ich in Schmerz und Selbstmitleid ertrank. Da ich, während des langen Trips in die neue Welt, endlich aus meiner persönlichen Hölle heraustrat, Zeitzonen und alte, abgestreifte Schlangenhäute weit hinter mir ließ, hatte ich plötzlich keine Angst mehr. Nichtmal der Tod hätte zu dieser Zeit noch einen respektablen Gegner für mich abgegeben.

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