Wo ist Falk?

Josie

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Wo ist Falk?

Wo ist Falk?

Gero Hard

„Ich bin dir so unendlich dankbar, dass du an meiner Seite bist. Es tut so gut!“, weinte er.
„Das ist doch selbstverständlich, mein Schatz.“, versuchte ich ihn zu trösten.
„Darauf hätte ich bis vor vier Wochen keine Hundert Euro gewettet. Ich dachte wirklich oft, du würdest mich wegen diesem Typen verlassen.“, schluchzte er und küsste mich auf die Wange.
Es war das erste Mal nach dem Ermittlungsbericht, dass er es wieder zum Thema machte. Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas, vor allem unter diesen terrorartigen Umständen, rang er sich ein gequältes Lächeln ab. Dann war es wieder vom Tisch, zeigte mir aber, dass er noch immer daran zu knabbern hatte. Und jetzt auch noch Falk …!

Der erlösende Anruf kam nicht. Sicherheitshalber hatten wir den Arzt nochmal kommen lassen, der uns mit Beruhigungsmittel versorgte. Eine schlaflose Nacht wurde es trotzdem, in der wir uns unruhig von einer auf die andere Seite warfen, gemeinsam weinten, beteten, hofften und uns endlich wie Ertrinkende aneinander klammerten.

****

Auch am nächsten Tag und in der nächsten Nacht passierte nichts. Keine weiteren Lebenszeichen von Falk, keine Lösegeldforderung. Mit jeder Stunde, in der wir zur nervenaufreibenden Untätigkeit verdammt waren, schmolz unsere Hoffnung, unseren Liebling gesund wiederzusehen.
Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, der Stress, die Nerven, zu wenig Flüssigkeit …, schleichend mergelten unsere Körper aus, verloren an Gewicht, an Kraft. Wir merkten all das nicht, nahmen die Warnung der Polizisten und des Arztes nicht ernst.
Öfter als einmal am Tag riet man uns, wir sollten uns doch hinlegen, weil wir schlecht aussahen, einen müden und abgekämpften Eindruck machten. ‚Wir müssten doch wieder zu Kräften kommen, weil wir die sicher noch brauchen würden‘, meinten sie.

„Lass sie doch reden, Schatz.“, bekam ich von Chris zu hören, wenn ich ihm sagte, dass der Arzt recht hatte.
Nachts wieder kein Schlaf, obwohl wir wieder eine Tablette genommen hatten. Noch nie war ich besonders religiös eingestellt. Kirche, Gebete, die Bibel, bisher immer als unnötig, überflüssig und nur für Dumme abgetan.
Plötzlich hatte ich den Wunsch in einer Kirche eine Kerze aufzustellen, mich mit einem Pfarrer zu unterhalten, zu beichten, wenn ich wüsste, dass es helfen würde.
„Chris, Schatz, schläfst du?“
„Nein, wie könnte ich. Ich will bereit sein, wenn das Telefon klingelt.“
„Hast du irgendwo eine Bibel?“
„Was um Himmels Willen willst du jetzt mit einer Bibel, Josie?“
„Ich weiß nicht, ich will sie einfach. Möchte sie hier zu uns ins Bett legen. Vielleicht spendet sie uns Trost.“
„Das ist eine …, Scheiße, warum bin ich nicht selber drauf gekommen?“
„Ist doch jetzt egal, hast du eine?“
„Ja, die alte vom Konfirmandenunterricht muss noch irgendwo liegen!“

An Schlaf war sowieso nicht zu denken, da kam es auf die halbe Stunde Sucherei auch nicht mehr an. Bis sie dann tatsächlich zwischen uns lag, und wir beide eine Hand daraufgelegt hatten.
Umso überraschter waren wir beide, als wir morgens die Augen aufschlugen und immer noch die heilige Schrift in unseren Händen hielten. Wir sahen uns an, lächelten trotz der inneren Anspannung. Ich nahm meine Hand vom Buch der Bücher und legte sie auf Chris‘ Wange, streichelte seinen Mundwinkeln mit meinem Daumen und sah tief in seine dunkel umrandeten, glanzlosen Augen.
Er selbst nahm sie dort weg und küsste meine Handfläche, begleitet mit einem Blick in meine Augen, der mir direkt unter die Haut ging.
Im Normalfall wäre es ein schöner Einstieg für ein erotisches Techtelmechtel geworden. Selten, dass wir unsere Finger bei uns behalten konnten, wenn ein Tag mit Streicheleinheiten begann.
Ich war Chris nicht böse, dass er nicht wie sonst den Anfang machte, oder mir sein hartes Gemächt an den Bauch presste. Und ich vermutete, er war ganz froh darüber, dass ich nicht mit meinen Händen in seine Hose glitt, um ihn hart zu machen. Wer konnte in so einer Lage an Sex denken? Chris nicht, ich nicht, und ich konnte mir auch sonst niemanden vorstellen. Da müsste man schon sehr gefühlskalt sein.
Zwei angstvolle Tage und zwei schlaflose Nächte musste wir warten, bis endlich am dritten Tag gegen Mittag wieder Bewegung in den Fall kam. Allerdings völlig anders, als wir es alle erwartet hatten, klingelte weder das Festnetztelefon, noch das Handy von Chris, sondern meines.
„Hören Sie gut zu! Wenn Sie den Jungen lebend wiedersehen wollen, geben Sie uns die Software für die Lenkwaffensteuerung auf einer Festplatte. Für die Übergabe melde ich mich morgen wieder.“ – Klack.
Das es keine von meinen Freundinnen gewesen sein konnte, erkannten sie daran, dass ich weder jemanden freundlich begrüßt, noch einen einzigen Ton gesagt hatte, als ich mit Tränen in den Augen das Handy sinken ließ.
„Sie wollen die Lenkwaffensoftware …, morgen …, auf Festplatte.“ 
„Und lebt er? Hast du ihn gehört? Falk …?“
„Nein, Schatz, habe ich nicht. Sie haben mir auch keine Chance gelassen, nach einem Lebenszeichen zu fragen.“
„Also Werksspionage!“, nickte der Typ von der Kripo. „Dann wissen wir ja, wo wir ansetzen müssen. In ihrer Firma,
Herr Reichelt!“

Chris hatte ihm nicht zugehört. Er war wieder in sich zusammengesunken und versuchte gegen seine Tränen anzukämpfen.
Ich fühlte mich bei all dem so macht- und hilflos. Es gab nichts, was ich tun konnte, um die Situation zu verbessern, außer bei Chris zu sein und ihn zu trösten.
Auch mit allem anderen stand ich allein da. Niemand war da, der mich tröstete, der sich meine Sorgen und Ängste anhörte. Niemand, der an meiner Stelle die Fragen in der Firma beantworteten würde. Na klar nahmen auch meine Kollegen Anteil an unserer Angst, aber ich ging einfach nicht mehr hin, weil es auch noch den letzten Rest meiner Kraft gekostet hätte.
Niemand, der mich einfach mal in den Arm nahm und mich drückte und an dessen Schulter ich mich ausweinen durfte. Ich … ‚der Fels in der Brandung‘ …, dass ich nicht lache. Aber ich durfte mir meine eigene Schwäche nicht ansehen lassen, durfte nicht nach außen zeigen, wie schlecht es mir selber ging.

****

Chris loggte sich über eine sichere Remote-Verbindung auf dem Firmenserver ein. Eine SSD-Festplatte hatte ich über unseren IT-Mitarbeiter besorgen lassen.
Genauso gut hätte dieser Mitarbeiter auch gleich eine komplette Sicherung der Software aufspielen können, aber Chris wollte sichergehen, dass die ‚richtige‘ Version und eben nur diese, auf der Festplatte landete.
Das er damit einen perfiden Plan verfolgte, wäre mir, angesichts der ziemlich bedrohlichen Situation für Falk, nie in
den Sinn gekommen. Schon gar nicht, wo ich doch Chris als überaus fürsorglichen, besorgten Vater kennen- und schätzen gelernt hatte.
An dem Abend gönnten wir uns eine Schlaftablette. Eine stärkere, als die letzten Nächte vorher. Wir mussten doch mal wenigstens ein paar Stunden schlafen. Beide sahen wir sowieso schon aus wie der schleichende Tod auf Schuhen. Tatsächlich gelang es uns sogar, ein wenig zu kuscheln, zu liebkosen und ein wenig zu streicheln. Zum Sex kam es nicht, keine Spur von aufkeimender Lust, kein Ansatz einer beginnenden Erregung, kein noch so zögerlicher Aufbau einer brauchbaren Erektion bei Chris.

****

Gegen Mittag am nächsten Tag kam der ersehnte Anruf mit Treffpunkt und Zeit, wieder auf meinem Handy. Aber auch mit der Information, dass Falk so lange als Geisel bleiben würde, bis die Software geprüft sei. Erst dann sollte es einen neuen Anruf geben, um die Übergabe des Jungen zu vereinbaren.
Im Hintergrund hörte ich ihn weinen und ich musste auch einen dicken Klos durch den Hals würgen, aber wenigstens hatten wir damit ein verlässliches Lebenszeichen.
Chris fuhr selbst zum Treffpunkt. Ein wenig hatte er die Hoffnung, den Täter bei der Abholung zu überraschen. Auch die Kripo hatte sich geschickt postiert und hatte die gleiche Hoffnung.
Unruhig lief ich währenddessen einen Graben in den hochflorigen Teppich im Wohnzimmer. Wenn doch nur Franzi jetzt hier wäre. Aber die musste noch eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Mein Verhältnis zu Lydia und Manuela aus der Buchhaltung war auch nicht gut genug, als dass sie mir hätten Gesellschaft leisten können.
Meine Eltern wollten nach der Aktion mit dem Dreier noch immer nichts von mir wissen, schieden also auch aus. Und das, wo ich doch nun einen ‚richtig guten Fang‘ gemacht hatte. Aber sie unterstellten mir wieder und wieder, dass ich es ja wohl immer noch wild treiben würde. Ganz nach dem Motto: ‚Wer einmal betrügt, tut das immer wieder!‘
Meine Mutter war perfekt darin, mich damit zu einer billigen Schlampe abzustempeln und sah auch keinen Grund, von ihrer Meinung abzuweichen. Einen gemeinsamen Shoppingtermin, wie Chris ihn vorgeschlagen hatte, war noch nicht gefunden.
Chris Vater hatte ich noch nicht kennengelernt. Er lebte ja in Südspanien sein Leben. Mein Schatz hatte ihn angerufen, und ihm von Falk’s Entführung erzählt. Natürlich fuhr ihm der Schock in die Glieder, meinte aber, er könne eh nicht helfen, versprach aber ganz dolle die Daumen zu drücken.

Ich lief, wie gesagt, auf und ab. Kaute auf den Fingernägeln, fuhr mir immer wieder durch die langen Haare und wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. Mein Puls raste und die dummen Bauchschmerzen waren auch wieder da. Noch stärker als vor vier Tagen, wo man Falk entführt hatte und wir mit unserer Panik alleingelassen wurden.
Körperlich war ich ein Wrack und hatte, genau wie Chris, bestimmt mindestens fünf Kilo abgenommen. Gegessen hatten wir so gut wie nichts, und wenn doch, dann flog es bei mir im hohen Bogen wieder ins Klo, kaum, dass ich es heruntergequält hatte. Das blieb meinem Schatz erspart, doch machte die Sache dadurch schlimmer, dass er Nahrung nahezu komplett verweigerte.
Eine neue Kotzattacke … was zur Hölle sollte da noch kommen, außer bitterer Galle, oder der letzte Schluck Kaffee. Die schmerzhaften Krämpfe, mit denen ich den spärlichen Mageninhalt nach oben würgte, trieben mir die Tränen in die Augen.
Wieder und wieder, ohne sichtbaren Erfolg. Wie auch, der verdammte Magen war doch sowieso leer. Und dann diese Schmerzen, die sich langsam vom Magen aus in Richtung Unterleib verlagert hatten. Schon öfter in den letzten Tagen hatte ich das Gefühl auf Toilette zu müssen. Wenn ich dann drauf saß, kam nichts, außer ein paar Tropfen, die den Druck in meiner Blase nicht lindern konnten.
Ein neuer Krampf raubte mir den Atem …, etwas riss in mir, landete durch den Krampf wie ein Pfropfen in meiner Hose, … ein höllischer Schmerz pflügte durch meinen Unterleib! Etwas lief aus mir … machte mich nass.
Erschöpft versuchte ich mich aus der Hocke hochzustemmen, doch mir fehlte die Kraft. Jede Anstrengung brachte neue, schier unerträgliche Schmerzen. Ich musste mich setzen, am besten auf die Klobrille, wollte es laufen lassen … was auch immer das war, womit ich mir in die Hose gemacht hatte.
Mir wurde schlecht vor Schmerz. Mit letzter Kraft wuchtete ich mich auf die Knie, zerrte an meinem Hosenbund, streifte ihn runter und sah … nichts mehr …, weil ich ohnmächtig wurde und mit dem Oberkörper auf dem Toilettenbecken zusammenbrach.

****

Etwas streichelte mein Gesicht, weich wie eine Feder, zärtlich-sanft. Ich versuchte die Augen zu öffnen, wollte wissen, was es war, das mich so sanft ins Leben zurückholte. Grelles Licht blendete mich, ließ mich blinzeln. Meine Muskeln gehorchten mir kaum, fühlten sich taub an.
Nur langsam gewöhnte ich mich an die Helligkeit und nahm langsam die Umgebung war, in der ich mich befand. Erkannte Chris fast nur schemenhaft, trotzdem bemerkte ich sofort seine verweinten Augen, wie so oft in den letzten Tagen. Eine Woche zum Abhaken. Nicht zum Vergessen, das würde uns wohl niemals gelingen.
Neben ihm stand Franzi, mit ihrem Kopfverband, aber ohne Nachthemd, mit dem sie die letzten Tage im Krankenbett gelegen hatte. Auch sie hatte feuchte Augen. Wieso weinten alle um mich herum, war etwas mit Falk? Hatten sie ihm etwas angetan? War die Übergabe schief gegangen? Am liebsten hätte ich meine ganzen Fragen auf einmal gestellt.
Stattdessen beugte sich Chris zu mir herunter und nahm mich liebevoll in die Arme, wie er es die ganze letzte Woche selten getan hatte. Etwas Fürchterliches musste passiert sein!

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