„Franzi, bitte, du musst uns erzählen, was passiert ist! Wo ist Falk? Wie sah der Typ aus …? Wie viele waren es …? Warum hast du nicht dies …, warum hast du nicht das …?“
So prasselten die Fragen auf Franzi ein, die mir in diesem Moment fast leid tat. Alle redeten auf sie ein, quasselten durcheinander und jeder war der Meinung, seine Fragen wären die wichtigsten.
Ich konnte nur zu gut verstehen, dass jeder was von ihr wissen wollte, schließlich war sie nicht nur unmittelbar dabei, sondern direkt betroffen.
Vorher hatte Chris die ganze Zeit geweint. Er war zusammengebrochen und hatte vom Arzt eine Beruhigungsspritze bekommen, erst dann ging es einigermaßen. Zusammengesunken saß er auf einem Sessel, starrte traumatisiert imaginäre Löcher in die Luft. Ich half ihm auf, führte ihn zur Couch, auf der ich ihn ablegte und mit einer leichten Decke zudeckte. Er tat mir unsagbar leid, so fix und alle, wie er dalag, völlig geistesabwesend, aus der realen Welt abgerückt, unfähig ein klares Wort zu sagen. Ich blieb bei ihm, strich ihm über die Haare, kraulte ihm den Nacken, versuchte ihm das Gefühl zu geben, nicht allein mit der Situation fertig werden zu müssen.
So aufgelöst hatte ich ihn bis dato noch nie erlebt. Schon als er die Polizei am Telefon hatte, knickten ihm die Knie ein, weil ihm sofort klar war, dass etwas Furchtbares passiert sein musste.
Nur gut, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon dicht bei ihm stand und ihn stützen konnte. Bei diesem Anruf ging es ‚nur‘ um die verletzte Franzi. Das allein reichte schon, um ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Als dann auch noch feststand, dass Falk entführt worden war, war es ganz vorbei mit seiner Fassung. Aufgeregt lief er herum, setzte sich, stand wieder auf, stand zitternd am Fenster, vor dem er dann von einem Weinkrampf geschüttelt, auf die Knie sank. Das war dann der Moment, als ich den Arzt anrief.
Aber Entführung …, mein Gott, zu keiner Zeit hatten wir uns bedroht gefühlt. Wie auch? Tagsüber hielten wir uns in einem Hochsicherheitsbüro auf, abends in einer Villa mit hohem Zaun, Kameras und einem ausgeklügeltem Sicherheitssystem! Das ausgerechnet Falk seine Schwachstelle sein könnte, soweit hatte Chris nicht gedacht.
Allerdings hatten Chris und ich in der kurzen Zeit nach unserem Wiedertreffen nie über Sicherheit, oder Angst um Leib und Leben gesprochen. Warum auch?! Ich kannte ihn noch nicht gut genug, wusste noch nicht viel über das, was in der Firma passierte. Nur, dass er sehr auf Sicherheit bedacht war und das schien mir angesichts der vorhandenen Vorsichtsmaßnahmen, mit meinem laienhaft technischen Verständnis auch ausreichend umgesetzt worden zu sein.
Chris hätte es besser wissen müssen! Schließlich war ich auch zu einem Sicherheitsrisiko für ihn geworden. Aber das hatte er wohl total ausgeblendet. Wohl auch, weil er vor Liebe blind war.
****
Franzi, die selbst noch nicht wieder bei klarem Verstand sein konnte und bestimmt brüllende Kopfschmerzen hatte, sah verwirrt von einem zum anderen. Versuchte die Worte zu sortieren, sie den Fragenden zuzuordnen, was zu sagen. Aber immer, wenn sie den Mund öffnete, prasselten wieder und wieder Fragen auf sie ein, bis sie aufgab und völlig überfordert die Augen schloss. Ruhe trat ein. Ich hatte das Gefühl, die Leute hatten gemerkt, dass sie mit ihrem Terror nicht weiterkamen.
„Franzi bitte …, sag doch was … Falk.“, war nun Chris der einzige, den sie wie durch einen Nebel reden hörte.
„Ich weiß nichts Chris, es tut mir leid. Der Schlag … dann war alles dunkel um mich herum. Wieso, was ist mit Falk?“
„Entführt, wie es aussieht.“
„Oh mein Gott, Chris …! Wie konnte …, wieso …? Es tut mir so leid!“
„Franzi verstehst du, wir brauchen jede noch so kleine Information! Wir müssen ihn wiederfinden, ich wüsste sonst nicht …! Nicht auszudenken, wenn … sie ihm was antun!“, ging seine Stimme in verweintes Flüstern über.
Chris sackte wieder resigniert in sich zusammen und weinte haltlos in seine Hände, die er vor sein Gesicht geschlagen hatte. Mir selbst ging es auch alles andere als gut. Mir dröhnte der Schädel von der Aufregung und ich hatte Bauchschmerzen von dem Stress und dem ganzen Ärger. Nicht zuletzt von der Sorge, die ich mir um Falk machte. Falk, der mir in den letzten Wochen so stark ans Herz gewachsen war, dass ich mir manchmal tatsächlich wie seine Mutter vorkam. Noch immer musste ich an die Frage denken, die er mir am Ruderstand der Yacht gestellt hatte:
‚Bist du jetzt meine neue Mama, Tante Josie?‘
Auf dem Boot hatte mir diese kurze Frage die Tränen in den Augen gespült. Klar, aus seiner Sicht war es eine ganz natürliche und durchaus berechtigte Frage.
Die Vorstellung, dass er jetzt gerade in einem dunklen Raum, vielleicht einem muffigen Kellerloch eingesperrt sein könnte, dass er sich vor Angst in die Hosen machen würde, zerriss mir das Herz. Hatte er genug zu essen, zu trinken? Behandelten sie ihn wenigstens gut? Ich wusste genau, dass er ohne seine Schmusedecke, auf deren Ecke er noch immer herumnuckelte, nicht einschlafen konnte. Es machte mir Angst, wie skrupellos die Täter vorgegangen waren. Wer zu so etwas fähig ist, würde im Zweifel auch nicht vor Schlimmerem zurückschrecken. Chris hatte recht, nicht auszudenken, wenn …!
„Ich kann euch nichts sagen. Falk hatte sich gerade um meine Beine geklammert, als mich der Schlag traf. Ich hatte nur Augen für ihn. Wie furchtbar!“, ergänzte sie traurig, drehte ihren Kopf zur Seite und weinte mit Chris um die Wette.
Ich durfte nicht weinen, auch wenn alles in mir förmlich danach bettelte. Am liebsten hätte ich alle zusammen in meine Arme geschlossen und hätte mit ihnen zusammen wie ein Schlosshund geheult. Aber ich musste stark sein. In erster Linie für Chris, für Franzi und auch für mich. Mir fiel die Rolle des ‚Felsens‘ zu, der für alle anderen Personen um mich herum ‚in der Brandung stehen‘ musste.
„Hier kommen wir nicht weiter, Herr Reichelt. Am besten ist es, wenn wir in der Villa eine Fangschaltung aufbauen.“, fachsimpelte der Beamte. „Wir erwarten Sie dann dort!“
„Geht nur, ich komme schon zurecht. Aber haltet mich bitte unbedingt auf dem Laufenden, ja?“, lächelte Franzi kraftlos und schickte uns mit einer kurzen Handbewegung nach draußen.
****
„Kannst du fahren?“
Chris hatte sich auf dem Flur auf eine der Bänke fallen lassen. Ich konnte ihm ansehen, dass er fix und fertig war. Seine Augen hatten tiefe Ringe bekommen und mit dem leeren Blick jeden Glanz verloren. Ich versuchte ihn in den Arm zu nehmen. Aber sogar das wehrte er ab.
„Ich kann das jetzt nicht.“, weinte er.
„Es würde dir vielleicht helfen, Schatz. Und denkst du nicht, mir würde es jetzt auch guttun? Chris, mir geht es damit auch nicht gut. Verstehst du das?“
„Tut mir leid, Liebling! Natürlich. Du hast ja recht!“
Chris ließ es dann doch zu, dass ich ihn in meine Arme zog. Seine Hand legte sich in meinen Nacken und kraulte mich dort. Sanft, ohne Druck. Ein vertrautes Gefühl, aber ich spürte, dass er nicht bei der Sache war. Es war so anders als sonst, wenn er das tat. In den Momenten, in denen die Welt in Ordnung, und sonst so voller Liebe war.
Der gegenseitige Trost machte uns für die kurze Auszeit etwas stärker. Er ließ uns etwas runterkommen, unseren Herzschlag beruhigen, soweit das jetzt möglich war.
Mir fiel es auch nicht leicht, den Sportwagen konzentriert durch den dichten Verkehr zu lenken. Sonst liebte ich es, dieses rote Traumauto, mit dem springenden Pferd auf dem Emblem, zu fahren, die neidischen Blicke der Männer und Frauen auf mich zu ziehen. Heute wollte ich nichts wie raus aus dem engen Sitz, der mich einengte und mir den Brustkorb einschnürte, raus aus der schnittigen Blechdose, die mir jetzt völlig gleichgültig geworden war.
Die Polizei wartete tatsächlich schon vor dem schmiedeeisernen Tor, das sich erst öffnete, als ich den Knopf der Fernbedienung in meiner Mittelkonsole gedrückt hatte.
Aus dem Briefkasten guckte der Zipfel eines braunen Umschlags heraus. Ungewöhnlich, weil die Tagespost längst durch war.
Chris und ich sahen uns an, ahnten innerlich schon, dass nichts Gutes darin zu finden sein würde. Vielleicht die Lösegeldforderung, vielleicht ein Lebenszeichen von unserem Schatz? Bevor ein Kripobeamter die Möglichkeit hatte, mir den Umschlag aus den Händen zu nehmen, riss ich ihn mit zittrigen Fingern auf.
Der Inhalt, nur drei Fotos, auf denen Falk zu sehen war, sonst nichts. Er hockte auf einer Decke, um ihm herum eine kleine Sammlung bunter Bauklötze. Sonst nichts. Nichts zu essen oder trinken, keine Jacke, sonst nur die kahlen, grauen Wände, seitlich und hinter ihm.
Die Entführer hatten ein Plakat an die Wand geklebt. ‚NOCH GEHT ES IHM GUT‘, stand dort in dicken Lettern. Die Betonung lag auf dem Wort „Noch“, weil es dreimal dick unterstrichen war.
Chris riss mir die Fotos aus der Hand, sah sie sich an, strich mit den Fingerkuppen über das traurige Gesicht von Falk.
Eine Träne, zerplatzte auf dem Fotopapier und hinterließ eine kleine wellige Beule.
„Ich kann nicht mehr!“, murmelte Chris, „hilf mir Josie …, bitte!“
Aber was konnte ich tun? Ich war doch sonst so sicher darin, immer das Richtige zu tun. Warum gelang es mir genau in diesem wichtigen Moment nicht für ihn da zu sein, so, wie er es gebraucht hätte? Alles hätte ich getan, um ihm helfen.
Dabei sah niemand, wie schlecht es mir selbst dabei ging! Niemand kam zu mir, fragte mich, wie ich mit der Situation zurechtkam! Niemand legte mir eine tröstende Hand auf die Schulter! Nur, wenn ich mich an Chris schmiegte, und auch nur, wenn ich ihn fast dazu zwang, legten sich zögerlich ein paar Hände auf meine Hüften. Dabei hätte ich viel mehr als das gebraucht!
Wo war denn mein Fels, wenn ich schon der für alle anderen war? Es gab keinen …!
Die Villa war ohne Franzi und Falk nicht mehr die gleiche, wirkte verlassen, die Grabesstille machte uns noch nervöser. Es war nicht mehr das Zuhause, in das wir gerne zurückkehrten.
Die Bilder wurden uns gleich von den Polizisten abgenommen. Alle, bis auf eines, das wir unbedingt behalten wollten. Selbst, wenn es das letzte sein sollte, was uns an den süßen, kleinen Knirps erinnern sollte.
Von da an hatten wir ständig wenigstens zwei Beamte im Haus, die nur darauf warteten, dass eines unserer Telefone klingelte. Wenn das passierte, lief sofort ein Tonband mit und ein anderer Polizist versuchte den Anruf zu verfolgen.
****
Die Sorge um unseren Sohn zermarterte uns, zerriss unsere Herzen, ließ uns keinen klaren Gedanken fassen. Ich liebte diesen Jungen, wie sehr er mir aber in den letzten Wochen tatsächlich ans Herz gewachsen war, wurde mir erst jetzt brutal vor Augen geführt. Auch Chris liebte ich, logischerweise anders als Falk.
Ich könnte mir vielleicht vorwerfen lassen, zu Beginn unserer Beziehung, Dankbarkeit mit Liebe verwechselt zu haben, oder mir nur eingeredet zu haben, dass ich in ihn verliebt war. Warum sonst geisterten zu der Zeit noch die Bilder von Sven durch meinen Kopf und verwirrten mich.
Daran dachte ich schon lange nicht mehr. Spätestens die schockierenden Ermittlungsergebnisse des Privatdetektiven hatten mich endgültig geheilt. Dazu der knallharte Blick von Chris und die Aufforderung, ihm abends meine Antwort
dazu zu geben, jagten mir noch heute einen kalten Schauer über den Rücken.
Später hatten wir noch lange darüber gesprochen und ich versprach ihm, wie schon einmal, dass eine Wiederholung auf keinen Fall stattfinden würde. Das, und die spätere ärztliche Untersuchung, die bei uns beiden ohne Befund war, beendete das Kapitel Sven/Herpes. Was blieb, war meine Sorge um Ela.
Stundenlang starrten wir regungslos auf unsere Telefone. Manchmal ging es nicht mehr und Chris fiel mutlos, verbittert
zitternd vor Aufregung, an meine Schulter, oder mit seinem Kopf auf meinen Schoß.
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.