Er ist ein alter Geschäftsfreund, der neben seiner politischen Tätigkeit im italienischen Innenministerium auch an der Leitung des Chemie-Konzerns beteiligt ist, der Ginas Vater die Rohstoffe für seine Sektkorkenfabrik liefert. Gelblich schimmert die weiße Tischdecke vom Schein der silbernen, vierarmigen Leuchter. Sie beginnen mit der Fischsuppe, Gina schiebt den Wagen heran und schöpft jedem eine Portion in den weich geschwungenen Suppenteller. Wohl könnten sie sich ein Dienstmädchen leisten, die Geschäfte laufen gut, und alles sieht so aus, als würde sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Gina fand es jedoch archaisch, sich von einem zufällig sozial schlechter gestellten Mädchen als "Herrschaft" bedienen zu lassen und einigte sich mit ihren Eltern auf eine Haushaltshilfe, welche lediglich die notwendigen hygienischen und kulinarischen Arbeiten abdeckt.
Erst als sie ihrer Mutter den Teller reicht, wird ihre Tracht bemerkt: Ein schwarzer Rock mit weißer Schürze und ein weißes Häubchen auf dem Kopf. Was soll das nun wieder? Intelligent, und schön, eine begabte Studentin der Archäologie von sechsundzwanzig Jahren, mit besonderem Interesse für die überwältigende Historie ihrer Heimatstadt Rom, in intimen Verkehr mit Cäsar, Hannibal, Augustus und anderen Größen der Geschichte, kann sie es nicht lassen, die Eltern nach längeren Pausen konventioneller Seriosität mit ihren kindischen Einfällen zu frappieren. Ihr Vater reagiert immer empört. Im Hause Mescurie ist für derartige Albernheiten kein Platz. In seiner Jugend war das noch anders. Einmal überraschte er seine Eltern mit der Faschingsmaske seines Schulkameraden. Ohren, Nase und Haare rissen sie der armen Hexe ab und mit Toni durfte der kleine Giorgio nicht mehr spielen.
Lucia aber lacht gewöhnlich gleichermaßen über Giorgios Empörung wie über Ginas Einfall. Einer disziplinierten, von Fleiß und Gehorsam geprägten Erziehung zugetan, ist sie bereit die gelegentlichen Ausbrüche ihrer Tochter als berechtigte Kompensationsbedürfnisse zu tolerieren, zumal Ginas Verhalten und Leistungen gewöhnlich durchaus zufriedenstellend sind. Giorgio lächelt dann über Lucias Lachen, weil er darf und weil er liebt und schmunzelt über seine Empörung und Ginas lustigen Einfall.
Zweiter Frühling
6 43-66 Minuten 0 Kommentare
( Vorsicht: Traurig-böse Geschichte mit traurig-bösem Happy-End. Besser nicht lesen. M.F.)
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