„Notfall? Nein, ich habe keinen Notfall. Ich wollte nur fragen, ob … äh, Sie mich zum Grab meiner Frau begleiten können, damit ich dort nicht zusammenbreche. Als Trauerbegleitung sozusagen.“
„Nadine, du Früchtchen …, na warte.“, murmele ich vor mich hin und muss über ihre Unverfrorenheit schon fast wieder lachen. Dieses kleine, gerissene Schlitzohr zieht alle Register. Sie wußte genau, dass das Wort ‚Notfall‘ bei mir einen Alarm auslöst und ich ihn zu 100% anrufen würde.
„Na klar komme ich mit. Wann wolltest du denn hin?“
„Du?“, fragt er verwundert.
„Ja, ich hab‘s mir überlegt, gefällt mir doch besser. Ist es ok für dich?“
„Von mir aus gern. Na dann, ich dachte an morgen oder übermorgen, gegen 17 Uhr, wenn ich Feierabend mache.“
„Warte, ich muss eben nachsehen.“ Muss ich dieses Mal tatsächlich. Manchmal muss ich auch arbeiten und ich bin mir sicher, an einem der beiden Tage einen späten Termin zu haben.
„Dann morgen, übermorgen habe ich keine Zeit.“
„Super, ich freu mich. Danke schon mal. Treffen wir uns am Friedhof in der Hansestrasse?“
„Na klar, ich werde da sein. Bis morgen dann.“
Erleichtert lege ich meine Stirn auf die Tischplatte. Die letzten zwanzig Minuten waren schlimm für mich. Mein Herz rast immer noch. Puuh.
Mein Handy am Ohr baut eine neue Verbindung auf. Nadine, es dauert, bis sie ans Telefon geht.
„Hey Mum, alles easy bei dir? Was geht?“
„Nadine mein Schatz, du weißt, dass ich dich über alles liebe. Aber so einen Streich, machst du bitte nie wieder. Notfall … sag mal, spinnst du? Du weißt ganz genau, was Leon mir bedeutet und du bist die Einzige, die weiß, wie meine Gefühle für ihn sind. Ich habe irre Ängste ausgestanden.“
Stille am anderen Ende. Dann, mit leicht verweinter Stimme: „Tut mir leid Mama, ich habe nicht nachgedacht. Ich wollte doch nur …“
„…, dass ich ihn auf jeden Fall anrufe. Ich weiß, mein Schatz. Ich bin dir auch nicht böse, aber bitte mach das nie wieder, ok? Ich liebe diesen Kerl, dass es mich fast zerreißt und könnte es nur schwer verkraften, wenn …, wenn er sich was antut.“
„Endlich Mama, endlich hast du‘s gesagt.“
„Was gesagt? Was meinst du?“
„Na, dass du ihn liebst. Ich weiß es doch schon lange und endlich ist es dir auch klar.“
„Du hast ja recht, Süße, die letzten Minuten waren die Hölle, da ist es mir endgültig klar geworden. Und trotzdem hast du dich gegen mich verschworen, aber dafür danke ich dir. Hab noch einen schönen Abend Schatz, bis nachher.“
Wie konnte ich nur so blöd und blind sein. Natürlich, jetzt ist es klar. Warum habe ich die Zeichen, die mir mein Körper gesandt hat, nicht erkannt? Wollte ich sie nicht erkennen, oder bin ich noch nicht bereit, sie zuzulassen?
Muss ich mir von einem jungen, unerfahrenen Früchtchen die Augen öffnen lassen? Es scheint so zu sein, ich bin ja so dumm.
Nadine: Mutti hat recht, das war ne Spur zu heftig. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich das so reinzieht. Mist, da bin ich wohl etwas über’s Ziel hinausgeschossen. Aber was Gutes hatte es trotzdem. Endlich ist bei ihr der Groschen gefallen. Wurde aber auch Zeit, dass sie sich die Liebe zu Leon eingesteht.
„Was, deine Mudda hat wieder n’neuen Stecher?“
„Jetzt ohne Spaß Jackie, du bist nach meiner Mum, meine zweitbeste Freundin. Aber rede nie wieder so über meine Mama oder Leon, sonst müsste ich dir notgedrungen eine reinhauen.“
„Sorry.“, murmelt sie und fläzt sich wieder auf ihr Bett und spielt mit ihrem Handy. Handy … mein Stichwort. Leon, ich kann nicht bis heute Abend warten, bis wir, wie jeden Abend, kurz miteinander schreiben.„Instant News: Der Knoten ist geplatzt. Sie hat es zugegeben, dass sie in dich verknallt ist. Freue mich für euch. Jetzt bist du am Zug, verkack es nicht, die Tür ist offen. Ich drück dich.“ Dazu noch ein Emoji mit einem Kuss, dass sollte als Info für den Moment reichen.
„Werde mir Mühe geben. Ganz lieben Dank für deine Hilfe. Bist schwer in Ordnung. Dicke Umarmung.“, leuchtet Leon’s Antwort nur Sekunden später auf.
Leon: Mit einem zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht bin ich eingeschlafen. Das Gespräch mit Gero in der Firma, dann die Zusage von Freya und, dass sie mir das ‚Du‘ angeboten hat, dann nicht zuletzt die Info von Nadine, dass sich ihre Mutter in mich verliebt hat. Solch einen Tag, vollgestopft mit guten Momenten, hatte ich lange nicht.
Der Tag verging schleppend. Eine langweilige Telefonkonferenz nach der anderen, öde Gespräche mit Kollegen und dann hatte ich noch die neue Auszubildende an der Backe. Ein süßes Ding, aber leider mit Sabbelwasser getränkt. Irre, wie kann ein einzelner Mensch nur so viele Fragen stellen?
Fast im Minutentakt hatte ich auf die große Uhr über der Tür zu meinem Büro gesehen und habe sie verflucht, weil sie ausgerechnet heut so langsam voranging. Bestimmt machte sie das extra. Sie spürte, dass heute etwas Besonderes in der
Luft liegt.
Wie ein hungriger Tiger schleiche ich um mein Auto. Auf der Herrentoilette hatte ich sorgsam geprüft, dass die Haare perfekt liegen und vorsorglich noch ein paar Spritzer Armani Code hinter die Ohren aufgetragen. In jedem Auto, das auf den Parkplatz fuhr, hoffte ich sie zu erkennen. Nichts. Mittlerweile zeigte der Zeiger auf viertel nach fünf und von Freya keine Spur.
Dann endlich, kommt sie zu Fuß um die Ecke. Schon von Weitem sehe ich sie humpeln, so als wenn ihre Beine unterschiedlich lang wären. Ihr Gesicht zieren dicke schwarze Schlieren. Ich laufe ihr entgegen, sehe schnell, dass ihre Strumpfhose zerrissen und eines ihrer Knie blutig aufgeschrammt ist. Sieht schlimm aus, was ich sehe. Ich stütze sie. Dankbar nimmt sie meine Hilfe an.
„Hab mich voll aufs Maul geschmissen.“, sagt sie ärgerlich, „der blöde Absatz ist abgebrochen.“, versucht sie ihre
Verspätung zu entschuldigen. Jetzt sehe ich es. Aus einem der Heels war ein flacher Riemenschuh geworden.
„Warte mal.“, halte ich sie kurzentschlossen zurück. Dann bücke ich mich und ziehe ihr den heilen Schuh aus. Ein paar Schritte bis an den Straßenrand zu einem der Regenwassergulli’s und ich breche in einer der Gitterrosten den Absatz ab. Ungläubig sieht sie mir dabei zu.
Sie stützt sich auf meinem Rücken ab. Ich darf ihr den Schuh sogar wieder anziehen. „Ich kauf dir neue.“, zucke ich mit einem Lächeln mit der Schulter.
„Geht sich gleich viel besser.“, lacht sie, bleibt aber an meinem Arm hängen.
„Lass uns eben zu meinem Wagen gehen, dann machen wir dein Knie sauber. Ich besorge etwas Wasser, dann kannst du dir auch dein Gesicht waschen.“
Mit einem erleichterten Seufzer lässt sie sich seitlich in den Ledersitz meines BMW fallen. Der Verbandkasten gibt alles für eine erste Versorgung her. Einen Augenblick sehe ich ihr zu, wie sie mit ein paar Kompressen den Schmutz von den Knien wischt. Scharf zieht sie mit schmerzverzerrtem Gesicht die Luft ein.
Der nächste Wasserhahn ist nicht weit. Dort gibt es auch Gießkannen zur freien Verfügung. Ich bin schon fast wieder beim Auto. Wasser schwappt mir ans Hosenbein. Es ist mir egal, bei dem Wetter eine willkommene Erfrischung.
Freya hat sich neben den Sitz gestellt und ist dabei sich die kaputte Nylonstrumpfhose über ihren kleinen Hintern zu ziehen. Ich sehe noch, wie sie den Rock hochgeschoben und ihre Daumen in das dicht gewebte Bündchen des dünnen Gewebes gesteckt hat. Ein dunkelblaues Spitzenhöschen leuchtet mir kurz entgegen. Sieht gut aus. Dann bückt sie sich, um ihre Füße erst aus den Schuhen und dann aus den Strümpfen zu ziehen. Ihre Bluse klafft etwas auseinander und gibt den ungehinderten Blick auf ihre mittelgroßen Brüste frei, die in einem zum Höschen passenden BH eingezwängt sind. Sie sieht, dass ich ihr in den Ausschnitt schiele. Peinlich. Sie beeilt sich. Schade.
Nachdem auch das Gesicht von der zerlaufenen Schminke befreit ist, schlendern wir den Kiesweg entlang. Sie hat sich wieder untergehakt. Es ist Nadine’s und mein Geheimnis, dass ich weiß, was ihre Mutter für mich empfindet.
Ein traumhaftes Gefühl, endlich wieder eine Frau an meiner Seite zu spüren. Sie sagt nichts, geht aber dicht an meiner Seite. Versucht mich zu beruhigen, in dem sie ihre Hand zusätzlich auf meinen Arm legt.
„Du riechst schon wieder so gut.“, flüstert sie.
„Ich weiß doch, dass du gute Düfte magst.“ Gleichzeitig drehen wir unsere Köpfe zueinander. Zufällig. Unsere Blicke treffen sich und ich versinke in ihren Augen. Eine oder zwei Minuten stehen wir dicht voreinander. So dicht, dass ihre Brüste gegen meine Brust drücken. Keine fünf Zentimeter trennen unsere Lippen. Ich spüre die Wärme, die in ihr aufsteigt und sie leicht rot werden lässt. Ich halte ihrem Blick stand. Sie blinzelt, schafft es aber auch mich durchgehend anzusehen.
„Komm.“, sagt sie leise und zieht mich weiter. Anders als eben hält sie jetzt meine Hand, geht aber immer noch dicht neben mir, bis wir vor der Granitplatte stehen.
Sie sieht mich an, sieht, dass mir Tränen über die Wangen laufen. Mit den Daumen wischt sie mir die Tropfen aus dem Gesicht. „Es ist ok, weine ruhig. Gut, wenn du es zulassen kannst. Ich bin bei dir.“
Zusammen sinken wir in die Knie. Ich bin gebeugter als Freya. Sie legt ihre Hand auf meinen Rücken und streichelt mich. Unsere Oberschenkel berühren sich. Kein entsetztes Wegziehen, kein Zucken. Sie lässt es zu, dass wir uns nahe sind. Sehr nahe sogar.
„Heute bin ich nicht allein, mein Schatz. Ich habe Freya mitgebracht. Sie ist die Psychologin, von der ich dir schon erzählt habe. Sie hilft mir den Schmerz zu ertragen, wenn ich hier bei dir knie. Freya sieht nicht nur so aus wie du, sondern ist dir auch in anderen Dingen sehr ähnlich, weißt du? Kannst du sie sehen? Sie ist ganz dicht neben mir und tröstet mich. Ich bin froh, dass ich sie habe. Sie macht es mir leichter zu trauern. Dafür danke ich ihr sehr.“
„Lass uns zusammen ein Gebet sprechen.“, schlägt Freya vor. Ich bin ihr dankbar, dass sie die bedrückende Stille bricht. „Ich möchte es.“, ergänzt sie leise. Andächtig falten wir unsere Hände, senken den Kopf und beten mit geschlossenen Augen den Psalm 23:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. … Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“
Für einen Moment bleiben wir so hocken, die Augen bleiben geschlossen. Eine stille Gedenkminute, die den schönen Moment abrundet. Alleine wäre ich niemals auf die Idee gekommen. Unendliche Dankbarkeit erfüllt mich.
„Freya, darf ich dich kurz in den Arm nehmen? Es würde mir jetzt helfen. Ich bin dir so dankbar.“
Wortlos dreht sie ihren Oberkörper zu mir und schlingt ihre Arme um meinen Körper. Fest zieht sie mich an sich und legt ihren Kopf neben meine Wange. „Alles ist gut, Leon. Jederzeit.“
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Eine Viertelstunde später stehen wir wieder an meinem Auto. „Wie bist du überhaupt hierher gekommen?“
„Mit dem Bus. Ich hatte gehofft, du bringst mich nachher.“
„Sehr gern, Freya. Darf ich dich als Dank für heute zum Essen einladen?“
„Au weia, hast du etwa meinen Magen gehört?“, lacht sie.
„Nein, aber ich habe auch Hunger. Italienisch?“
„Ich liebe Italienisch. Woher weißt du das, hat Nadine dir das auch verraten? Ach lass, will ich besser gar nicht wissen, was sie dir schon für Geheimnisse anvertraut hat.“, winkt sie lachend ab.
Freya: Ich bin aber auch so blöd. Ausgerechnet mir musste das passieren. Wie konnte ich bloß diese kleine Kante im Bus übersehen. Gute Haltungsnoten würde ich für den Stunt nicht ernten, soviel war klar.
Bestimmt 8 oder 10 Leute standen lachend um mich herum, nachdem ich ungebremst aus der aufgeschwungenen Tür
auf den Asphalt geknallt war. Keiner von ihnen hatte es für nötig befunden, mir aufzuhelfen.
Langsam richtete ich mich mit hochrotem Kopf auf, gestützt von einer alten Frau, die es nach einer kurzen Schocksekunde als einzige für angebracht hielt, mir ihre Hilfe anzubieten.
Die Knie brannten wie Feuer, aufgescheuert vom rauen Belag der Straße, gespickt mit kleinen Steinchen, die der Straßendreck ebenso mit sich brachte. Mein Anblick musste grauenhaft sein, die aufgerissene Strumpfhose, die blutenden Knie und nicht zuletzt der abgebrochene Absatz meines rechten Hochhackigen.
Ich bin sowieso schon zu spät. Umdrehen und umziehen scheidet demnach aus. Mal ganz davon abgesehen, dass der Friedhof da vorne um die Ecke sein muss. Leon wird Verständnis haben, hoffe ich jedenfalls. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die letzten Meter zu ihm zu humpeln.
Da vorne, die Einmündung, die musste es sein. Ja, da steht er, lässig an sein Auto gelehnt und sieht so verdammt gut aus, in seiner Jeans und dem lockeren Sommerhemd. Er zuckt zusammen als er mich sieht, für einen kurzen Moment unschlüssig, sein Gesichtsausdruck erschrocken. Ein erster, zögerlicher Schritt auf mich zu, dann ein zweiter, schneller und länger als der erste. Ein paar wenige davon reichen, um neben mir zu stehen und mich zu stützen. Die Berührung seiner Hände, ihre Wärme, zwingt den Schmetterlingen in meinem Bauch neues Eigenleben ab. Und wie er wieder duftet. Das allein schon, lässt mein Herz höher schlagen. Rührend, wie lieb er sich um mich kümmert. Er bleibt stehen, bückt sich. Ich weiß nicht, was er vor hat, als er meinen Fuß anhebt, den mit dem heilen Schuh. Warum hat er ihn mir ausgezogen und warum geht er damit zu der Gitterroste vom Regenwasserkanal?
Kurz darauf knackt es überraschend laut.
„Ich kauf dir neue.“, sagt er. Mein ungläubiger Blick muss ihn zu dem Satz veranlasst haben. Er schiebt mir vorsichtig, ja fast zärtlich, den flachen Schuh auf meinen Fuß. Wie unglaublich sanft er das macht.
Seine Arme umfassen meine Hüfte. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, werde ich ihn küssen müssen. Gott, wie sehr sehne ich mich nach seinen Lippen. Wenn er doch nur etwas fordernder wäre. Aber was rede ich, ich bringe es ja selbst nicht fertig. „Du riechst so gut.“ Ich muss es ihm einfach sagen. Wie von allein nehme ich seine Hand, die sich weich in meine legt. Was für ein Glücksgefühl.
Seine Autositze sind von der Sonne aufgeheizt. Das Leder ist rau und deshalb ganz angenehm auf der Haut. Wenn er jetzt nur nicht so dicht vor mir knien würde. Eine Hitzewelle nach der anderen jagt durch meinen Körper. Eigentlich ein völlig unpassender Moment, aber ich werde langsam feucht. Ich spüre es deutlich, wie sich meine inneren Schleimhäute für ihn bereit machen. Er hockt vor mir, warum nehme ich mir nicht einfach, was ich möchte, was ich brauche? Warum traue ich mich nicht? Seine Zärtlichkeiten und Berührungen, wie sehr sehne ich mich danach, vermisse den süßen Schmerz, wenn ein harter Schwanz das erste Mal erobernd-druckvoll in mich eindringt. Wie gern würde ich mich ihm hingeben, mich fallenlassen und seine Intimität genießen. Und nur von ihm, Leon.
Sicher, Gelegenheiten hätte es in den letzten Jahren genug gegeben. Mir sind ein paar schnuckelige Typen über den Weg gelaufen. Nicht wenige von ihnen hatten mich mehr oder weniger deutlich angeflirtet und mir klar gemacht, dass sie durchaus auch zu mehr bereit gewesen wären. Aber ich war es nicht ... bis jetzt.
Ganz vorsichtig tupfe ich mir das Blut von den Knien. Jetzt, wo sie sauber sind, sieht es gar nicht mehr schlimm aus und tut komischerweise auch gar nicht mehr so weh. Immer wieder sieht er zu mir hoch, direkt in meine Augen. Sein Blick fesselt mich, so dass ich nicht wegsehen kann.
Aus einer eilig hergeholten Gießkanne schüttet er mir Wasser in die Hände, damit ich mir die verlaufene Schminke abwaschen kann. Zu dumm, dass ich nach dem Sturz losheulen musste. Er reicht mir ein Dreiecktuch aus dem Verbandkasten, damit ich mich abtrocknen kann.
Er drängelt nicht, gibt mir Zeit. Wieder kniet er vor mir. Mein Slip hat sicher schon einen dunklen Fleck. Ich kenne mich, wenn ich erregt bin, dann fließt es unaufhörlich aus mir heraus. Wohlbemerkt nicht immer zu meiner Freude. Wie jetzt, weil ich Angst habe, er könnte es in einem unvorsichtigen Moment sehen oder im schlimmsten Fall sogar riechen.
Er sieht mir in den Ausschnitt, das spüre ich. Es macht mir nichts aus. Im Gegenteil, zu wissen was er sieht, macht mich nur noch mehr an. Warum habe ich bloß diesen blöden BH angezogen. Ganz einfach, weil es sich so gehört. Ich muss das hier auflösen, sonst verfalle ich ihm augenblicklich restlos.
Ich gehe bewußt ganz dicht neben ihm. Erst hake ich mich bei ihm unter und nachdem ich ihm eine Träne weggewischt habe, nehme ich für den Rest des Weges seine Hand.
Am Grab bleibe ich dicht an seiner Seite. Gemeinsam, wie selbstverständlich, knie ich mich neben ihn. Vorsichtig und andächtig wischt er den Schmutz mit seinem Taschentuch von der Granitplatte. Dabei spricht er mit seiner Tina. Was er sagt, schnürt selbst mir den Hals zu. Er stellt mich tatsächlich seiner Frau vor. Erzählt ihr, wie ähnlich wir uns sind.
Mein Bedürfnis ihn anzufassen, wird mit jedem seiner Worte größer. Meine Hand liegt auf seinem Rücken und streichelt ihn vorsichtig. Anders kann ich ihn gerade nicht trösten.
Bei den Begleitungen, die ich mit anderen Patienten gemacht habe, war ein Gebet nicht nur gewünscht, sondern auch
überaus tröstlich. Er nickt zustimmend und wir einigen uns auf den Psalm 23, den ich noch vom Konfirmanden-unterricht kenne.
„Freya, darf ich dich kurz in den Arm nehmen? Es würde mir jetzt helfen. Ich bin dir so dankbar.“
Es trifft mich unvorbereitet, dass er mich das in diesem stillen Moment der Andacht fragt. Vorhin hätte ich ihn noch küssen und über ihn herfallen wollen. Doch jetzt bin ich schüchtern, weil ich weiß, wie mein Körper auf seine Berührung reagieren wird.
Wortlos sehen wir uns an. Meine Starre löst sich überraschend schnell und meine Arme umschließen seinen Oberkörper. Meinen Kopf lege ich auf seine Schulter und sauge süchtig seinen Duft ein: „Alles gut Leon. Jederzeit.“
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Eine halbe Stunde später steige ich mit weichen Knien und einer Einladung zum Italiener reicher, aus seinem Auto aus.
Ich bin aufgeregt. Tausend Fragen gehen mir durch den Kopf. Was ziehe ich an, Rock oder Hose … welchen Duft lege
ich auf … was für Unterwäsche, gemütlich oder reizvoll?
Nadine sitzt auf meinem Bett und freut sich wie ein kleines Kind auf Weihnachten, dass Leon sich getraut hat. Endlich!
„Wurde auch langsam Zeit.“, flötet sie mir entgegen, während sie auf ein weißes Kleid zeigt. Eine gute Wahl. Der Stoff umschmeichelt meine Figur, betont meine Taille und meine Brüste, auf die ich im Übrigen sehr stolz bin.
Das Kleid ist sportlich-elegant und ein wenig sexy, ohne aufdringlich zuviel Haut zu zeigen. Dazu weiße Spitzenunterwäsche und weiße Sandaletten. Ein paar Spritzer Armani ‚Si‘ hinter die Ohren … fertig. Armani … wir beide … als wenn ich’s geahnt hätte.
Ein paar letzte Drehungen vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer, ein anerkennender, hochgestreckter Daumen von Nadine, überzeugen mich vollends, mit ihr zusammen die richtige Wahl getroffen zu haben.
Ein Klicken hinter mir. Gerade noch sehe ich, dass Nadine ein Foto mit dem Handy gemacht hat.
„Schicke ich Leon, damit er sich was Passendes anziehen kann und damit er weiß, was er für eine heiße Schnitte ausführt.“
„Untersteh dich.“
„Zu spät.“, lacht sie mich an. Warum hat mich der liebe Gott mit diesem so lieben, bösen Kind gestraft? Liebevoll ziehe ich sie in meine Arme und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ganz viel Spaß heute Abend.“, flüstert sie mir zu.
„Danke mein Schatz.“
„Und verkack das nicht wieder, hörst du? Tu’s für uns, Mama.“ Fast kommt es mir vor, als wenn sie feuchte Augen hat. Auf jeden Fall lässt ihr Tonfall keinen Zweifel daran, dass sie es vollkommen ernst meint.
„Ich geb mir Mühe.“, streiche ich ihr übers Gesicht, ein weiterer Kuss auf ihre Stirn längst überfällig.
Im selben Augenblick klingelt es. Hat der Mann denn gar keine Fehler? Pünktlich wie ein Maurer, fast auf die Minute genau.
Federleicht schwebe ich die Stufen hinunter. Dunkelblaue Stoffhose, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Sakko. Perfekt! Die zwei oberen Knöpfe vom Hemd hat er lässig offen gelassen, so, dass ein paar schwarze Brusthaare zu sehen sind. Er begrüßt mich mit einem Küsschen auf meine heißen Wangen, genau auf die roten Flecken.
Ganz Gentleman hält er mir lächelnd die Tür auf der Beifahrerseite von seinem BMW auf, nimmt meine Hand, gibt mir einen gehauchten Handkuss auf den Handrücken und hilft mir galant beim Einsteigen. „Vorsicht Knie.“, sagt er, bevor er die Tür zuschlägt.
Mein Herz klopft wie verrückt und mir ist heiß, unfassbar heiß. Mit der flachen Hand muss ich mir Luft zufächeln, während er um das Auto herum geht. Jeder seiner Schritte wird von meinen Augen begleitet. Ich muss einfach laut ausatmen. Meine Beine zittern so stark, dass sich der Rocksaum bewegt. Meine Hände liegen auf meinen Oberschenkeln, damit es nicht so auffällt.
„Bereit?“, fragt er.
„Eigentlich nicht.“, möchte ich am liebsten antworten, weil es mein Kreislauf gerade kaum zulässt. „Na klar, ich freue mich schon riesig.“, antworte ich aufgeregt.
„Du siehst toll aus. Ein wunderschönes Kleid. Hoffentlich habe ich vorhin nicht deine Lieblingsschuhe kaputtgemacht.“
„Danke und nein, keine Sorge, ich hab noch welche, siehst du?“, hebe dabei einen Fuß. „Außerdem wolltest du mir noch neue kaufen.“, lache ich ihn an.
„Das mache ich auch. Am besten, wir fahren zusammen und du suchst dir ein paar hübsche aus.“
„Gute Idee.“ Mehr Kommentar fällt mich nicht ein. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er oft zur Seite sieht und mich auffallend mustert. Ich spüre seine Blicke auf meinem Körper herumwandern, wie es jede Frau spürt, wenn Augen auf ihr ruhen. Es ist mir alles andere als unangenehm, dass er mich ansieht. Soll er ruhig, so lange es ihn nicht zu sehr vom Fahren ablenkt. Und so macht es mir auch nichts aus, dass mein Rocksaum durch das raue Leder etwas hochgerutscht ist. Meine Beine sind lang und schlank, kein Grund sie zu verstecken. Sollte ich den Blick von Leon nicht völlig falsch deuten, findet er das augenscheinlich auch.
Das Restaurant sieht schon von außen saugemütlich aus. Wieder steht Leon neben der Beifahrertür und öffnet sie für mich. Und wieder der galante Griff nach meiner Hand, die ich ihm nur zu gern reiche.
Auf dem Weg zur Eingangstür legt er vertraut seine Hand um meine Hüfte und ich lege meine auf seine, die ohne
Druck auf meinem Hüftknochen gelandet ist. Ich wage es sogar, meinen Kopf kurz an seiner Schulter anzulehnen. Ein magischer Moment, der uns verbindet.
In der Pizzeria kommt der Kellner und bittet uns, ihm zu folgen. Mir ist schwindelig vor Aufregung. Deshalb fische ich nach Leons Hand und drücke sie fest, als ich sie finde. Er lächelt mich an und flüstert:
„Fühlt sich schön an, du hast so zarte, weiche Hände.“ Jedes Wort von ihm ein Kompliment, das mir unter die Haut geht.
Ein Glas halbtrockener Roter steht bald vor uns. Ein gegenseitiger Blick in unsere Augen reicht, um zu wissen, was jetzt zwangsläufig kommen muss. Gleichzeitig heben wir das Glas, sehen uns fest in die Augen.
„Hallo, ich bin Leon.“, sagt er und ich sehe, dass er sich ein Lachen verkneifen muss.
„Sehr angenehm, Freya.“, antworte ich und stoße vorsichtig an sein Glas. Ein helles, feines ‚Pling‘ trennt unseren Blick.
Leon steht auf, geht um den Tisch herum, zieht mich an einer Hand aus dem Stuhl bis ich direkt vor ihm stehe und küsst mich auf den Mund. Länger, als dass es ‚nur‘ ein Bruderschaftskuss sein kann. Und doch zaghaft vorsichtig, sehr darauf bedacht, mich nicht zu überfordern. Dennoch werden meine Knie weich, schon wieder schießt mir ein Stromstoß in den
Unterleib.
Kurz trennen sich unsere Lippen, aber ich möchte nochmal, möchte es wieder fühlen, dieses Kribbeln in der Magengrube. Ich lege ihm meine Hand auf die Wange und drücke ihm langsam, ganz sanft meine Lippen auf. Keine Zunge, nur Lippen … warme, weiche Lippen.
Die ganze Zeit sehen wir uns tief in die Augen, bis Beifall in unserem Bereich des Lokals aufkommt und uns schamhaft in die reale Welt zurückholt, aus der wir, von uns unbemerkt, entrückt waren. Leise, langsam lauter werdend. Erst jetzt nehmen wir die Menschen um uns herum wieder zur Kenntnis, die uns begeistert und verzückt zusehen. Ungern und wenn es nach mir ginge viel zu früh, trennen sich unsere Münder.
„Entschuldige.“, murmele ich und setze mich mit puterrotem Gesicht auf meinen Stuhl zurück. Mit einem tiefen Schluck Roten versuche ich meine Fassung wiederzubekommen. Das gelingt auch, doch leider nur kurz, denn kaum sitzt Leon wieder vor mir, nimmt er meine beiden Hände und streichelt sie mit dem Daumen. „Danke“, sagt er, „das war traumhaft schön.“
Leon: So durcheinander war ich schon lange nicht mehr. Tinas Nähe war in den Jahren zur Gewohnheit und Selbstverständlichkeit verkümmert. Nicht, dass die tägliche Routine unsere Liebe geschmälert hätte. Bei weitem nicht.
Doch die Trauer und der schmerzliche Verlust haben mich fast vergessen lassen, wie gut sich ‚Nähe‘ anfühlt. Der Gedanke, an das schöne Gefühl, verblasst langsam unter dem seelischen Schmerz in meiner Brust.
Aber in den letzten zwei Wochen passierte etwas mit mir, nicht zuletzt ausgelöst von Nadine, die mir mit ihrer sonnigen
Art wieder auf den rechten Weg ins Leben geholfen hat. Vielleicht unbewusst, weil sie einfach ist, wie sie eben ist, locker und lebensfroh. Bei ihr hörte sich alles so leicht und selbstverständlich an. Sie hatte es einfach nicht nötig, sich zu verstellen. Warum auch, es hätte ihr keinen Vorteil verschafft.
Ihre abendlichen WhatsApp-Nachrichten mit wenigen Worten, waren wie Balsam für meine Seele, wenn ich in meinen Gedanken gefangen, völlig fertig von der Arbeit kam. Und ich glaube, auch sie zog einiges Positives aus unserer losen Schreiberei.
Längst hatte sie mich als einen Freund eingestuft, vielleicht sogar zu ihrem besten werden lassen. Väterlich gereift, in ihren Augen weise und um so viel klüger, als alle Jungs in ihrem Alter. Mit dem Prädikat „geeignet“ ausgezeichnet, um mir DIE Fragen zu stellen, die sie eben diesen Jungs nie stellen würde. Sie mochte mich, wie ich sie mochte. Wir brauchten uns auf einer ganz einfachen Ebene und es war schön, sie an meiner „Seite“ zu wissen.
Natürlich erkannte ich auch die versteckten Signale in Bezug auf ihre Mutter, bis sie dann irgendwann keinen Hehl mehr daraus machte und offen aussprach, dass sie mich gern als neuen Partner ihrer Mum hätte. Sie hatte ihre Wahl längst getroffen und wie sie zu berichten wusste, ging es Freya wohl sehr ähnlich. Ich mag Freya auch. Schon vom ersten Tag an. Wie souverän sie mit der Situation umgegangen ist, als ich ihr weinend um den Hals gefallen war. Gleichzeitig mitfühlend und warmherzig.
Mit der Zeit, bei den wenigen Begegnungen mit ihr, begann ich sie mit anderen Augen zu sehen. Die nötige Distanz war durch ihre Entscheidung, die Behandlung abzubrechen, verloren gegangen.
Und trotz der offensichtlichen, gegenseitigen Zuneigung brauchte es die kleinen Hinweise von Nadine um zu erkennen, was für eine tolle Frau wie durch ein Wunder in mein Leben getreten war.
Sie brachte mich durcheinander, verwirrte mich und die Bilder in meinem Kopf lenkten mich von der Arbeit ab. Sogar Gero schubste mich verbal in ihre Arme, bestärkte meinen Wunsch, sie näher kennenzulernen. Er kannte mich lange genug, um zu erkennen, was diese Frau mit ihrer bloßen Anwesenheit mit mir angestellt hatte und immer noch anstellte.
Ich wollte ja nichts lieber als das. Ich wollte sie in meine Arme nehmen und konnte mir sogar mehr mit ihr vorstellen.
Nur zu gern würde ich Nadine ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen und ein Teil dieses Clubs der einsamen Herzen werden. Wenn doch nur der verräterische Zwerg zwischen meinen Beinen nicht diese üblen Versagensängste schüren und mich so dermaßen hemmen würde.
Aber ich wußte auch, dass nur ich allein dieses Problem angehen konnte. Eine umfassende, in Teilen überaus peinliche Untersuchung bei Urologen ergab, dass es rein körperlich keine Probleme gab, die eine anhaltende Erektion verhinderten. Also war meine Psyche das Problem, wie sowohl Gero, als auch ich, vermuteten. Es bleibt also keine andere Möglichkeit, mich der Tatsache zu stellen, mich damit abzufinden und zu hoffen …
Die Begegnung und ihre aufrichtige Anteilnahme auf dem Friedhof, berührte mich und mein Herz. Ihre liebevollen Blicke, als ich sie nach ihrem Sturz stützte, versorgte und mich um sie bemühte. Ihr Lächeln und die Wärme ihrer Hände, die mir durch und durch gingen. Das Gebet, während sie ihre Hand auf meinem Rücken hatte. Die Hand … ihre Hand … es war, als würde eine fremde, übersinnliche Kraft in meinen Körper strömen. Ich fühlte mich so leicht. Mein Herz schlug so schnell, dass mir schwindelig wurde. Alles wirkte so vertraut, so, als müsste es genauso sein. In diesem Augenblick fasste ich den Entschluss, es zu versuchen. ‚Es‘ bedeutete, zu versuchen, sie für mich zu gewinnen. Wenn Nadine recht hatte, müsste ich bei Freya bereits offene Türen eintreten.
„Darf ich dich als Dank zum Essen einladen…?“ Die Frage kam wie von allein über meine Lippen. Ich war froh sie herausbekommen zu haben, ohne dabei in Ohnmacht gefallen zu sein. Das Funkeln ihrer Augen machte dies wohl möglich, weil es mich von der Aufregung des Augenblicks ablenkte.
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Minutenlang starre ich auf das Bild, dass Nadine mir geschickt hat. Wie schön sie ist, ihre Haare fallen seidenweich auf ihren Rücken, nur ein paar einzelne Strähnen legen sich vorne auf ihre Brust, umrahmen ihr feinen Gesicht. Das Kleid, wie auf ihren schlanken Leib geschneidert, eng genug um den sanften, gleichmäßigen Schwung ihrer Taille zu betonen und gleichzeitig weich fließend.
Meine Jeans und das Shirt, waren mit Aufleuchten des Bildes sofort unpassend geworden. ‚Danke Nadine‘, neben dieser Frau wäre ich völlig underdressed, fast deplatziert gewesen. Genug Zeit, ein anderes, viel passenderes Outfit zu wählen.
Sie strahlt über‘s ganze Gesicht, als sie aus der Haustür kommt. Die Sonne leuchtet sie von hinten an und erzeugt einen
goldenen Ring um ihre Haare. Eine Heilige ist sie nicht für mich, aber leichtfüßig wie ein Engel schwebt sie auf mich zu. Der Schwung ihrer Arme bewegt den Rocksaum, der glockenartig hin und her pendelt.
Sichtlich beeindruckt nimmt sie meine Hand, wird sogar ein wenig rot, als ich ihr den Handkuss aufhauche, wie ich es
vor ewigen Zeiten in der Tanzschule gelernt hatte, ohne direkten Kontakt der Lippen mit dem Handrücken.
Von da an lasse ich sie nicht mehr aus den Augen. Sehe, wie sie meinem Seitenblick ausweicht, erkenne den hochgeschobenen Rocksaum, den sie aber nicht wieder sittsam zurechtrückt. Ein gutes Zeichen, Nadine scheint recht zu haben.
Meine Hand auf ihrer Hüfte auf dem Weg ins Restaurant … ihre Hand, die sie auf meine legt … ein klarer Ausdruck ihres Einverständnisses. Mehr noch, ihr ausdrücklicher Wunsch, meine Hand unbedingt dort zu lassen.
Einen Augenblick hat sie ihren Kopf sogar auf meine Schulter gelegt. Noch deutlicher konnte sie mir nicht zeigen, wie ihre Gefühle für mich sind.
Mein persönlicher Höhepunkt des Tages war der Bruderschaftskuss. Ich war dazu aufgestanden und stand dicht vor ihr, nachdem ich sie sanft aus ihrem Stuhl hochgezogen hatte. Voller Erwartung und Neugier auf das Kommende, sieht sie mich an, zögert kurz und dann küssen wir uns auf den Mund, ein ganz vorsichtiges erstes Mal.
Kaum trennen wir uns, um Luft zu holen, weil wir in diesem einzigartigen Moment das Atmen vergessen haben, legt sie ihre Hand auf meine Wange und küsst mich gleich ein zweites Mal. Länger als eben noch. Mit einer Verbrüderung, nachdem man sich das ‚Du‘ angeboten hat, hat das rein gar nichts mehr zu tun. Dieser Kuss ist voller Liebe und Zärtlichkeit, berauschend und verzaubernd gleichermaßen. So also fühlt es sich an, wenn der Pfeil Amors das Herz durchbohrt? Ist es dieses Gefühl, was man mit einem einzigen Wort beschreiben kann? Liebe? Bisher hatte ich es ein einziges Mal in meinem Leben gespürt, als ich Tina kennenlernte. Und genau jetzt wieder, so wunderschön kribbelig, aufregend und magisch. Bis das Essen kommt, schließen unsere Augen einen Pakt, der unsere Hände verschweißen lässt. Selbst, als sich unsere Verbindung trennen muss, bleibt dieser Pakt der Augen. Unsere Blicke ersetzen den Verlust, den die Leere in unseren Händen entstehen lässt.
Ihr Blick wird traurig, als der Kellner den Teller mit den Nudeln, Lachsstückchen und Spinat vor mir abstellt. Die Garnierung rundet das Bild ab. Beinahe lieblos angerichtet hingegen, ihre Pizza. Obwohl ich mir sicher bin, dass der Koch sich allergrößte Mühe gegeben hat.
„Das sieht ja toll aus. Viel besser als meins.“, informiert sie mich mit einem verräterischen Augenzwinkern.
„Willst du probieren?“
Ohne die Antwort abzuwarten, drehe ich ein paar Bandnudeln auf die Gabel, sorge mit einem Stück Fisch für den geschmacklichen Gipfel. Ihre Augen lächeln, während ich die Temperatur der Nudeln auf ein erträgliches Maß herunterpuste und ihr danach die Gabel langsam in ihren Mund schiebe. Gerade, als sie die Lippen schließen möchte, ziehe ich die Gabel kurz zurück. Nur, um sie gleich wieder in ihren geöffneten Mund zurückzuschieben. Mit geschlossenen Augen, genießt sie den Geschmack. „Hhmmm … das ist ja Klasse. Voll lecker. Wollen wir tauschen?“,fragt sie mit Dackelblick, wobei sie den Kopf schräg legt.
Wenn sie will, will ich auch. Und obwohl die Teller schnell getauscht sind, teilen wir die Gerichte gerecht. Aber das schönste Stück ihrer Pizza darf ich essen. Gegenseitig füttern wir uns, jeder Bissen mit liebevollen Blicken versüßt, bis alles verputzt ist. Auch, wenn die letzten Happen fast kalt geworden sind, weil wir unsere Hände nicht voneinander lassen können.
„Das war mit Abstand der schönste Abend seit langem Leon.“ Sie ist vor mir stehengeblieben. Keine fünf Zentimeter trennen unsere Nasenspitzen.
„Ich habe ewig nicht so viel gelacht.“, antworte ich verlegen.
Ein klein wenig muss sie sich auf die Zehenspitzen drücken, damit unsere Lippen auf einer Höhe sind. „Ich danke dir.“, flüstert sie, nachdem sich unsere Lippen wieder gelöst haben.
„DU musst dich nicht bedanken. ICH danke dir.“, erwidere ich, wobei meine Hände auf ihren Hüftknochen liegen. Von ihr kommt keine Gegenwehr, kein Sträuben, mit dem sie die Hände verscheuchen möchte.
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Auf dem Heimweg liegt ihre Hand auf meinem Oberschenkel. Nicht einfach obendrauf, sondern auf der Innenseite. Ihr Handgelenk und ein Teil ihres Unterarmes dient als Stütze. Ihre Finger streicheln mich durch die Hose. Nicht aufdringlich, dicht an der kleinen Wölbung in meiner Hose, sondern genau mitten zwischen Knie und Geschlecht. Eigentlich ganz brav und doch hocherotisch.
„Willst du noch auf’n Kaffee mit hochkommen?“, ihre Frage ist nicht nur höfliche Konsequenz des Abends. Sie ist vielmehr eine ernst gemeinte Aufforderung, den Abend jetzt und hier nicht einfach so enden zu lassen.
„Gern ein anderes Mal, aber ich muss morgen wieder früh raus. So ein blödes Meeting, sonst wirklich gern.“ Fast tut es mir ein bisschen leid, für sie, für uns. Aber es ist auch die Flucht vor dem peinlichen Moment, sollte sie ‚mehr‘ wollen. ‚Mehr‘, eben das, was ich ihr nicht geben könnte.
„Krieg ich denn wenigstens noch einen Kuss?“
Das Auto bildet einen schützenden Käfig um uns. Es ist eng und unbequem. Die Mittelarmlehne drückt mir in die Rippen. Ihre Hände liegen auf meiner Brust und meine Arme umschlingen ihre Schultern. Unsere Lippen gehen zum x-ten Mal an diesem Abend diese chemische Verbindung ein. Mutig schiebe ich meine Zunge vorwärts, erbitte Einlass in ihren Mund. Nur ein ganz klein wenig öffnen sich ihre Zahnreihen. Gerade weit genug, damit sich unsere Zungen berühren können. Erschrocken über den Kontakt, ziehen wir sie für den Bruchteil einer Sekunde zurück.
Finden sich wieder, verknoten sich zu einem glühenden Klumpen überrumpelter Geschmacksnerven.
Alles an dieser Frau fühlt sich perfekt an. Nicht nur ihr Körper allein, der sich fest an mich schmiegt. Ihre Zahnreihen, glatt und gleichmäßig, ihre Haare, duftend weich und ihr Geschmack, einfach verführerisch.
„Spätestens nächsten Samstag bei mir zum Essen. 18 Uhr, legere Kleidung, keine Blumen und keine Widerrede!“
Ich möchte zusagen, sie gebührend mit den richtigen Worten verabschieden. Sie lächelt und drückt mir ihren Zeigefinger auf die Lippen. Dann steigt sie mit einem letzten Strich über meine Brust aus, sieht mich ein letztes Mal an und wirft dann die Tür mit einem leichten Schwung zu.
Ich will sie wenigstens bis zur Tür begleiten, aber sie ist schneller in der Tür verschwunden, als ich um das Auto herum bin. Kopfschüttelnd sehe ich nur noch die Haustür ins Schloss fallen.
Eine Dreiviertelstunde später, ich liege schon frisch geduscht mit einem versonnenen Grinsen im Bett, als mein Handy piept. Ich denke an Nadine, die sich heute noch nicht gemeldet hat. Sie ist es nicht. Freya ruft an:
„Du bist schuld daran, dass ich nicht schlafen kann. Ich muss die ganze Zeit an diesen Abend denken. Deine Hände, unsere Küsse … Leon, wo führt das hin?“
„Ich weiß es nicht, Freya. Es fühlt sich alles so leicht an und schön. Und ich bin bereit, es herauszufinden, wenn du das auch möchtest.“
„Ich bin dabei. Klingt schön, dass du mich dabeihaben möchtest. Schlaf gut und träum was Schönes.“
„Du auch Freya. … Freya?“
„Ja?“
„Du bist eine tolle Frau. Ich freue mich auf unsere Zielsuche.“
„Haha! Und du bist ein faszinierender Mann Leon Stolberg, der mir den Kopf verdreht hat.“ – Klack.
Wieso legt sie so plötzlich auf? War das eine Liebeserklärung? Es klang fast so. Ihre Stimme wurde plötzlich ganz leise und weich, sogar ein wenig zittrig. Ich hätte ihr gern noch was dazu gesagt. Der Gedanke schwirrt mir noch im Kopf herum. Der Sperrbildschirm vom Handy leuchtet auf. Freya? Nein, jetzt ist es Nadine.
„Mama sagt, ihr habt euch geküsst? Oh man Leon, endlich, ich freue mich so für euch. Wärst du jetzt hier, würde ich dich auch küssen.“
„Ja, das stimmt, da hat sie nicht gelogen. Aber wir wollen sie doch nicht eifersüchtig machen, Prinzessin, oder?“
„Ist sie nicht. Und? Hat sie’s drauf?“
„Ne 8 von 10, würde ich sagen.“
„Ihr müsst eben üben. Boah, ich bin ganz aufgeregt. Seid ihr jetzt zusammen?“
„Ich weiß es nicht, Nadine. Ganz ehrlich, ich hätte nichts dagegen.“
„Sie auch nicht. Das weiß ich. Sie liegt nebenan, ich höre sie weinen. Hab sie gefragt, ob alles ok ist. Sind Freudentränen, hat sie gesagt. Hey Leon, die ist hin und weg von dir. Verschossen! Wenn du es nicht versaust, ist sie für immer vom Markt.“
„Warten wir’s ab. Geh rüber und gib ihr einen Kuss von mir, dann hört sie vielleicht auf zu weinen.“
„Geile Idee, mach ich. Hau rein und schöne Träume, am besten von Mama.“
Freya: Ihm die Hand quasi zwischen die Schenkel zu schieben, war sehr mutig. Mir war völlig bewußt, dass ich mich damit auf sehr dünnem Eis bewege. Aber was sollte denn schon passieren? Im schlimmsten Fall könnte er ärgerlich meine Hand nehmen und in meinen eigenen Schoß zurücklegen. Und wenn nicht, wären aus dieser Ausgangsposition viele kleine Spielchen möglich. Das leichte Streicheln mit meinen Fingerkuppen sorgte für Aufruhr in meinem Slip. Wie musste es dann erst ihm gehen, wenn bei mir schon in kürzester Zeit …
Ich hatte natürlich gehofft mitzuerleben, wie sich seine Erektion aufbaut. Wenn schon nicht sehen, wollte ich wenigstens sein erstes Zucken an meinem Unterarm fühlen. Aber es tat sich nichts. Gar nichts.
Kein Zucken, keine größer werdende Beule, keine Härte, die an meinen Unterarm drückte, nicht mal ein leichtes Aufblähen seiner Schwellkörper. Entweder, er ist ein Meister der Körperbeherrschung und schafft es, seine Erregung zu unterdrücken, oder ich bin vielleicht doch nicht sein Typ, oder er bekommt keinen … nein, das konnte kaum angehen. Nicht in seinem Alter, nicht, wenn es keine grundsätzlichen, gesundheitlichen Probleme gäbe.
Ich musste raus aus diesem Auto, wenn ich verhindern wollte, dass ich über ihn herfallen würde. Leon lässt mich alles an Anstand vergessen, was mir meine Eltern so mühevoll anerzogen hatten.
Am liebsten würde ich ihm einfach in den Schritt greifen, ihn streicheln, fühlen, ihn hart machen, damit er mit mir nach oben geht. Scheiß auf den Kaffee, ich wollte ihn in meinem Bett. Schmusen, küssen, streicheln, vielleicht blasen, ihn schmecken und dann möchte ich mich von ihm ficken lassen.
Anscheinend ist er noch nicht so weit. Ich gebe zu, mir zu schnell nehmen zu wollen, was ich möchte, ist eine meiner größten Schwächen. Besonders, wenn das Objekt der Begierde so ein Sahnestückchen wie mein Leon ist. Sollte jemand versuchen, mir meine Beute streitig zu machen, wird sie den erbitterten Kampf einer Löwin erleben. Diesen Mann werde ich mit allen mir zur Verfügung stehenden, gerechten und ungerechten Mitteln verteidigen, nicht zuletzt meiner Tochter zuliebe.
Der letzte Kuss des Abends, meine Hände auf seiner Brust. Ich spüre seinen schnellen Herzschlag, unsere Zungen finden und verbinden sich. Die nächste Stufe meines Glücks. In seinen Augen funkelt es feucht. Ihm zu sagen, wie sehr ich mich in ihn verliebt habe, liegt mir auf der Zunge. Es wäre zu früh, das fühle ich genau. Die Nässe in seinen Augen, die sich zu einer Träne formen und mein innerer Wunsch, ihm meine Liebe zu gestehen, treiben auch mir das Wasser in die Augen. Ich drehe mich von ihm weg, öffne die Autotür und steige aus. Ein paar schnelle Schritte bis zur Eingangstür.
Ich darf mich nicht umdrehen, sonst werde ich wieder schwach und will seine Lippen fühlen. Ich darf mich nicht
umdrehen, sonst muss ich mir anhören, was er mir noch sagen möchte. Der Kuss ist der schönste mögliche Abschluss des Abends und den möchte ich nicht unnötig kaputt machen.
Schnell drücke ich die Tür, gegen den Widerstand der automatischen Türschließung, ins Schloss. Das dicke Holz ist wie eine unüberwindbare Mauer für Leon und wiegt mich in Sicherheit. „Bitte verzeih mir Leon.“, denke ich. Ich brauche ein paar Minuten für mich allein. Keine Nadine, die mich mit Fragen quält oder mir vorwirft, wie dumm ich mich in dem Projekt „Leon“ anstelle.
Das Flurlicht geht aus. Die Dunkelheit macht mir keine Angst. Meine Unterarme überkreuze ich vor der Brust und lege sie auf meine Knie. Die Stirn darauf abgelegt, weine ich. Unaufhörlich laufen mir die Tränen über die Wangen, tropfen von meinem Kinn und treffen dann auf nackte Oberschenkel, von denen mein Rocksaum in meine Leiste gerutscht ist.
Ich ärgere mich darüber, was ich doch für eine dumme Kuh bin.
„Man Freya, du bist 38 Jahre alt. Kannst du dem nicht einfach sagen, dass du dich in ihn verliebt hast?“, schellte ich mich selbst.
Es hilft nichts. Ich muss mich den bohrenden Fragen Nadine’s stellen. Schwerfällig wie eine alte Frau schleppe ich mich die Stufen hoch.
„Und? Wie war’s? Wo ist er, hast du ihn mit hochgebracht? Habt ihr euch geküsst? Nun erzähl doch und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“
Ich hab es befürchtet. Genau diese Flut und Art von Fragen ist es, vor denen ich mich am liebsten gedrückt hätte. Aufgeregt hüpft sie vor mir, sieht an mir vorbei und erkennt, dass ich alleine bin.
„Was ist Mama, war es nicht gut?“
„Süße, gib mir einen Moment. Ich kann jetzt schwer darüber reden. Es war so wunderschön, überwältigend. Wir haben uns geküsst, berührt …“.
Meine Augen sind schon wieder nass. Ich lege meiner Nadine eine Hand auf die Schulter, gehe ins Schlafzimmer und lasse mich bäuchlings aufs Bett fallen.
Später, beim Zähneputzen fällt mir das Glas ins Waschbecken. Überall Splitter, Nadine kommt reingestürmt: „Alles ok?“
„Ja, ja, ich bin so schusselig.“
Völlig entnervt setze ich mich auf den Badewannenrand. Zu allem Überfluss bin ich auch noch in eine kleine Scherbe getreten. Jeder Fußabdruck hinterlässt einen roten Abdruck.
„Du bist nicht schusselig Mama. Du bist verknallt bis über beide Ohren.“
„Ach Nadine, wenn das doch alles nur viel leichter wäre.“
„Was denkst du, wie es den Mädchen in meinem Alter geht? Da ist es noch ne echte Nummer schwieriger.“
„Aber bei euch sieht das alles so easy aus. Ihr denkt nicht darüber nach, ihr macht einfach, auch wenn es weh tut.“
„Mama, wir haben keine andere Chance. Ich kann nur hoffen, dass ich mal einen Jungen kennenlerne, der sich traut. Und ich versichere dir, ich werde sehr wählerisch sein. Und nun lass mich deinen Fuß verarzten.“
Etwas später liege ich mit einem Verband am Fuß im Bett. „Ich mach das sauber.“, hatte Nadine gesagt und mich ins Bett geschickt. Ich bin unsagbar stolz auf sie. Wie erwachsen, rücksichtsvoll und feinfühlig sie geworden ist.
Noch ein kurzes Telefonat mit Leon, das mir für eine kurze Zeit ein verzücktes Lächeln ins Gesicht zaubert. Er ist noch keine Stunde weg und ich vermisse ihn jetzt schon. Die Sehnsucht nach ihm ist fast unerträglich.
Ich drehe mich erschöpft auf die Seite und weine mich langsam in einen Dämmerzustand, bis Nadine reinkommt und mich sanft auf die Wange küsst.
„Mit lieben Grüßen von Leon. Wenn ich dich küsse, ist es nicht mehr so schlimm, meint er. Der liebt dich auch, ich fühle das.“ Wenn sie doch nur recht behalten würde. Auf jeden Fall ist es tatsächlich nicht mehr so schlimm.
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Dienstag … die letzten Tage habe ich keine ruhige Minute vor Nadine und vor meinen Gedanken. Jede Sitzung mit
einem Patienten ist eine willkommene Abwechslung. Die Mittagspause ist gerade vorbei und der nächste Patient wartet bereits im Flur.
Nadine vergisst das Anklopfen und kommt mit meinem Handy in der Hand ins Wohnzimmer gestürmt. „Nachricht von Leon!“, ist sie etwas außer Atem.
„Von Leon sagst du? Was will er?“
„Mama, ich lese doch deine Nachrichten nicht. Man spioniert nicht in fremden Handys.“
„Na, dann gibt schon her.“
„Hallo Freya. Ich hole dich heute Abend so gegen 17 Uhr zum Schuhe kaufen ab. Falls es nicht passt, schreib mir ne Nachricht, ansonsten werde ich da sein.“
Sofort setzt das Rauschen in meinem Kopf wieder ein. Es ist mir egal, wieviele Termine ich heute ab 16.30 Uhr noch habe. Sie sind schlagartig alle zur Nebensache geworden.
„Nadine, geh bitte nach vorne und verschiebe alle Termine, die heute nach halb 5 eingetragen sind.“
„Triffst du dich mit Leon?“
„Sei nicht so neugierig. Aber ja, er fährt mit mir Schuhe kaufen.“
Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und einen auf den Mund. „Den auf der Wange gibst du bitte an Leon weiter. Hab dich lieb, Mutti.“
„Er kommt übrigens Samstag zum Essen. Ich möchte, dass du dann auch da bist. Kannst du das bitte einrichten Nadine?“
„Das sagst du mir jetzt erst? Na klar bin ich da. Nichts auf der Welt könnte mich davon abhalten.“
Ihr Grinsen scheint dauerhaft geworden zu sein, wenn wir Leon erwähnen. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich glauben, sie hätte sich auch in ihn verliebt. Auf jeden Fall ist er zu einer wichtigen Person in ihrem Leben geworden. Vielleicht sogar so wichtig wie ich, ihre Mutter, nur eben auf einer anderen Ebene. Sie dreht sich um und gibt die Tür für den Patienten frei, der nun in den Behandlungsbereich drängt.
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Bei der Klamottenauswahl hat mir Nadine wieder wertvolle Tipps gegeben. Für meinen Geschmack ist das Kleid ein
wenig zu kurz. „Wer nichts wagt, der nicht gewinnt.“, meinte Nadine altklug. Also gut, wo sie recht hat …
Es ist kurz vor 5, gefühlt sehe ich jede Minute mindestens einmal auf die Uhr. Dann endlich das erlösende Klingeln.
Im Laufschritt renne ich die Treppe runter. Fast wäre ich dabei ins Trudeln gekommen … nochmal Glück gehabt.
Ich reiße die Tür auf … verdammt geht die schwer.
Unmittelbar vor der Tür steht Leon, womit ich natürlich nicht gerechnet habe und laufe ihm deshalb direkt mit Schwung in die Arme. Er fängt mich auf und dreht sich mit mir im Kreis. Mein Kleid und meine Beine fliegen hoch. Wir lachen zusammen vergnügt auf. Dann stellt er mich wieder ab, nimmt mein Gesicht in seine Hände, streicht mir die wilden Haare aus dem Gesicht und küsst mich, dass mir fast schwarz vor Augen wird. Lange stehen wir da und unsere Arme ziehen uns immer fester aneinander. Dieser Kuss ist so unglaublich schön, dass es mich nicht gerade glücklich macht, als er seine Lippen von meinen nimmt. Seine Augen sehen tief in meine, fesseln mich. Ich kann einfach nicht wegsehen.
„Du bist wunderschön, wie immer. Laß uns losfahren, wir haben noch viel vor.“
„Wir haben noch viel vor? Leon, was hast du vor?“
„Ich möchte der schönsten Frau die ich kenne, die schönsten Schuhe kaufen und dann das schönste Eis mit ihr essen.“
Ich schmiege mich wieder an ihn, sauge seinen Duft auf, der wie immer meine Knie weich werden lässt.
„Eine super Idee. In der Eisdiele, wo du dich mit Nadine getroffen hast?“
„Genau da. Meine Lieblings-Eisdiele.“
In dem ersten Schuhladen finden wir nichts. Im zweiten sind die Preise gepfeffert. „Kein Limit.“, flüstert er mir zu.
„Kein Limit? Bist du sicher? Ich bin eine verwöhnte Göre.“, lache ich ihn an.
„Kein Limit.“, wiederholt er.
Mitten im Laden dränge ich meinen Körper an ihn und küsse ihn erst auf die Wange, dann auf den Mund.
„Der auf der Wange ist von Nadine. Ich soll lieb grüßen. Und der auf den Mund ist, weil du ein Schatz bist.“
Leon schleppt einen Karton nach dem anderen an. Ich darf mich auf einen Hocker setzen, weil Leon mir die Schuhe höchstselbst anziehen möchte. So einen Service lasse ich mir gern gefallen, auch wenn das Kleid dafür wenig geeignet scheint. Ich muss lächeln, als mir Nadines Spruch in den Sinn kommt: „Wer nichts wagt, …“
Leon kniet vor mir und schiebt mir einen Schuh über die Zehen, dann den zweiten. Jetzt muss ich ein paar Schritte gehen. Zu eng. Dann zwei Paare, die mir nicht gefallen. So geht das eine ganze Weile.
Leon ist wirklich ein Schatz und Gentleman. Sanft streicht er mir über die Waden, wenn er die kleinen Riemchen schließt, oder meine Füße in den Händen dreht, um den Anblick von allen Seiten genießen zu können.
Aber warum versucht er nie unter meinen Rock zu gucken? Da ist er wirklich ganz Gentleman.
Er hat mich soweit. Länger warten ist unmöglich! Ich beuge mich zu ihm herunter, lege meinen Zeigefinger unter sein Kinn und hebe seinen Kopf an. Dann lasse ich mich vor ihm auf die Knie fallen und nehme seine Hände.
Kurz sehe ich auch unsere verflochtenen Finger, die auf meinen Oberschenkeln liegen.
„Leon, ich muss dir was sagen, was längst überfällig ist.“, da erst sehe ich ihm fest in die Augen, „Leon, ich habe mich unsterblich in dich verliebt. Du raubst mir den Atem, ich kann nachts nicht mehr schlafen, ich sehne mich nach dir, wenn du fünf Minuten weg bist.“
Leon sieht mich an, als hätte ihn ein U-Boot gerammt. Sein Kopf senkt sich. Er sagt nichts. Wortlos spielt er mit meinen Fingern. Dreht an dem Ring, der auf dem Mittefinger meiner linken Hand steckt. Dann steht er auf und zieht mich mit nach oben. „Ich kann nicht.“, murmelt er und drückt mich auf den Hocker zurück und schiebt mir den nächsten Schuh auf den Fuß.
Ich fühle mich mies. Habe ich ihn mit meinem Geständnis vor den Kopf gestoßen und ihn vielleicht sogar vertrieben?
Er lässt sich nichts anmerken. Seine Gestik und Mimik ist unverändert freundlich. Seine Hände sind nach wie vor zärtlich auf meiner Haut. Nur sein Lächeln ist verschwunden und wurde von einem nachdenklichen Blick ersetzt.
Eigentlich möchte ich jetzt gern raus aus dem Laden. Raus aus dieser peinlichen Situation. Aber er lässt es nicht zu.
Hand in Hand gehen wir zur Kasse, wo er die Schuhe bezahlt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht mal darauf geachtet,
welche er ausgesucht hat, weil es zur Nebensache geworden ist. Und als er mich aus dem Schuhgeschäft schiebt, hat er wieder seine Hand um meine Hüfte gelegt.
Bis zur Eisdiele ist es nicht so weit. Genau richtig für einen kleinen Spaziergang. Leon sieht vor sich auf die Erde. Ich habe mich bei ihm untergehakt und meinen Kopf auf seine Schulter gelegt.
In der Eisdiele stochert er in seinem Eisbecher herum. Irgendwie fällt uns heute kein Thema ein, über das wir reden könnten.
„Freya, ich habe sehr genau verstanden, was du im Schuhgeschäft gesagt hast. Ich danke dir, für dein ehrliches Geständnis. Aber Tina … sie ist doch erst sechs Monate tot. Was sollen denn ihre Eltern denken?!
Ich bin wirklich sehr gern mit dir zusammen und würde am liebsten jede Minute mit dir verbringen. Ich mag dich auch sehr. Aber … ich kann nicht, verstehst du? Es tut mir leid.“
„Leon, ich verstehe es sehr gut. Ich musste es einfach loswerden. Jetzt ist es mir wohler. Wir haben alle Zeit der Welt und wenn du soweit bist, werde ich da sein. Bis dahin wäre ich sehr froh, deine beste Freundin zu sein. Und bitte, am
Samstag kommst du ja? Nadine freut sich doch schon so sehr.“
„Natürlich gern. Ich möchte auch nicht, dass sich nur wegen deiner Gefühle zu mir, etwas an unserem Verhältnis ändert. Es sei denn, du kannst es jetzt nicht mehr ertragen, in meiner Nähe zu sein.“
„Das möchte ich auch nicht. Und ich sage es dir gern noch einmal: Ich liebe dich, Leon, von ganzem Herzen tue ich das.“
Zur Bestätigung meiner Worte nehme ich seine Hand lege sie auf meinen Schoß. Dann beugt er sich zu mir und küsst mich. Für mich ist die Welt fast wieder in Ordnung. Ihm meine Gefühle gestanden zu haben, hat mir einen riesigen Stein von der Brust genommen. Nadine wird stolz auf mich sein.
Leon: Wie war das doch gleich? „Ich habe mich unsterblich in dich verliebt …“ Dieser Satz ging mir durch und durch und beschäftigte mich, nein, er beeinflusste die nächsten Tage erheblich, die ich zusammenfassen möchte:
In dem Moment, als sie den Satz sagte, war es, als würde jemand einen Eimer heißes Wasser über mich ausgießen.
Meine Haut prickelte am ganzen Körper. Ich musste mich schon sehr zusammenreißen, um sie nicht in meine Arme zu nehmen und leidenschaftlich zu küssen. Ich wusste, dass es irgendwann so kommen musste. Die Anzeichen dafür waren mehr als deutlich. Nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde und schon gar nicht, dass sie diejenige wäre, die den Anfang machte. In meiner Welt macht immer der Mann den Anfang, aber ich war noch nicht soweit. Zum einen, war da die Angst vor dem Gerede der Leute um mich herum, vorzugsweise dem meiner Eltern und Schwiegereltern, aber auch von Arbeitskollegen, Nachbarn und Freunden, die nach Tina’s Tod in meinem Leben nur noch eine kleine Rolle spielten. Zum anderen war da die noch andauernde Trauer in mir und die ethische Regel, doch mindestens ein Trauerjahr einhalten zu müssen.
Das alles ging mir rasend schnell durch den Kopf und der dicke Klos in meinem Hals, der auf meine Stimmbänder drückte, ließ mich nur drei Worte sagen: „Ich kann nicht.“
Ich sah sehr wohl, dass es Freya einen Stich versetzt hatte, sah ihren fast entsetzten Gesichtsausdruck, der nicht enttäuschter hätte sein können. Mir war klar, dass ich ihr mit meiner Reaktion sehr weh getan hatte, die so unpassend war, der Situation unangemessen und so gar nicht rücksichtsvoll oder mitfühlend.
Im Nachhinein bereute ich mehr als einmal, sie zum Schuhkauf überredet zu haben. Wie einfach wäre es gewesen, sie und Nadine am Samstag zu besuchen und einen schönen Abend mit den beiden Frauen zu verbringen. Doch so änderte sich alles mit einem einzigen Satz. Im Bett überlegte ich sogar, den Termin am Samstag abzusagen. Aber damit würde ich nicht nur Freya, sondern auch Nadine verletzen. Außerdem hatte ich Freya ja schon gesagt, dass ich gut finden würde, wenn unsere Freundschaft nicht darunter litt. Ich konnte den Gedanken wegen der Absage auch nicht zu Ende denken. Mein Handy zeigte eine Nachricht von Nadine:
„Du bist so ein gottverdammtes, dämliches Arschloch, Leon Stolberg!!“
„Nun mal langsam junge Dame, kannst du mir bitte mal erklären, was los ist?“
Anstelle einer neuen Nachricht las ich, dass sie ein Audio aufgenommen hat. Also wartete ich geduldig, bis sie damit
fertig war. Dann schrie sie mich mit Wut in ihrer sonst so schöne Stimme an:
„Eine tollere Frau als meine Mama findest du doch auf der ganzen Welt nicht, das solltest du mittlerweile wissen. Und nun springt sie endlich über ihren Schatten und sagt dir, dass sie dich liebt. Und was machst du? Servierst sie einfach ab, von wegen ‚Ich kann nicht‘? Sag mal, hast du sie noch alle? Die liegt nebenan und will keinen sehen, nicht mal mich. ‚Muss nachdenken‘ sagt sie. So ein Blödsinn. Ich weiß genau, dass sie heult. Ich sag dir jetzt mal was. Entweder, du regelst das bis Samstag, oder du brauchst deinen Arsch hier gar nicht erst herbewegen. Und damit das klar ist: Bis dahin werde ich mich nicht mehr bei dir melden! Schönen Abend noch.“
Ich schrieb ihr noch zurück, dass ich alles erklären könnte und sie mir doch bitte die Gelegenheit dazu geben solle. Aber sie hatte mich anscheinend blockiert, denn meine Nachricht bekam nicht einmal den zweiten Haken als Zeichen dafür, dass sie zugestellt worden war. Es tat mir weh, gleich zwei Menschen traurig gemacht zu haben, die mir wichtig geworden waren.
Die ganze Nacht lag ich wach und am nächsten Morgen sah ich fürchterlich aus, wie ein Waschbär auf Droge. Sogar mein Spiegelbild verachtete mich und ich konnte es ihm nicht verdenken. Alle Grübelei brachte mich zu keinem Ergebnis und so blieb nur die Erkenntnis übrig, dass ich mich Freya gegenüber ziemlich schäbig verhalten hatte.
Gero nahm mich sofort an die Seite, als ich ins Büro kam. „Ach, du Scheiße, wie siehst du denn aus?“ Gero hatte mich in den vergangenen Jahren unserer Freundschaft schon auf vielfältige Weise begrüßt, aber so noch nie. Jedenfalls nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Hart griff er mich am Oberarm und schubste mich fast in mein Büro und knallte
auch gleich die Tür zu.
„Was ist los?“, blaffte er mich an. Die Geschichte war schnell erzählt und Gero sah mich danach betroffen an.
„Und wo ist das Problem? Wie sind denn deine Gefühle für sie?“ Seine Fragen trafen direkt den Punkt, über den ich die ganze Nacht gegrübelt hatte.
„Da sagt dir so eine Frau, dass sie sich in dich verliebt hat und du antwortest nur mit: ‚Ich kann nicht‘? Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist.“
Ich unterhielt mich lange mit ihm, erklärte ihm meine Bedenken, Gerede, Trauerjahr und so weiter.
„Alter, seit wann gibst du was auf das Gelaber anderer Leute? Rede mit deinen Eltern, rede mit deinen Schwiegereltern. Erkläre ihnen die besondere Situation, sag ihnen, wie ähnlich Freya der Tina sieht. Und wenn du auch nur ein bisschen für sie empfindest, dann entschuldigst du dich bei ihr. Jetzt ab nach Hause und schlaf dich erstmal aus. Ich melde dich beim Boss krank. Los, hau schon ab!“
Geros Kopfwäsche war wichtig für mich gewesen. Es bedeutete mir viel, was er mir sagte. Vor allem hatte er recht damit. Auf die Idee, das Gespräch zu suchen, war ich nicht gekommen. Und vielleicht war genau das der Schlüssel zu all meinen Problemen mit der Situation.
Für den Rest der Woche ließ ich mich krankschreiben. Mit meiner angeschlagenen Psyche war das auch kein Problem.
Es gab viel zu erledigen, denn ich wollte am Samstag zu Freya und Nadine. Mir war klar, dass ich das nicht unvorbereitet tun konnte und dass ich ihnen ein paar klärende Worte schuldig war.
Die Nacht von Donnerstag auf Freitag war eine ganz besondere für mich. Ich schlief sogar einigermaßen gut.
Trotz absoluter Dunkelheit im Zimmer, wurde es plötzlich ganz hell in meinem Kopf und ich hatte das Gefühle, ein warmer Körper würde neben mir liegen und sich an mich kuscheln. Ich hörte, wie der Körper zu mir sprach, verstand aber kein Wort. Ein wunderbarer Traum! Ich sah ganz deutlich Tinas Gesicht vor mir mit ihrem liebevollen Blick. Der Traum endete genauso plötzlich, wie er begonnen hatte. Ich versuchte, diesen Traum wieder zu erleben, an die zuletzt gesehenen Bilder anzuschließen, aber es wollte leider nicht gelingen.
Ich wachte auf und sah mich um, weil ich das Gefühl hatte, nicht allein zu sein. Tinas Kopfkissen war zerwühlt, ihre Bettdecke lag zu einer Rolle verdreht auf ihrem Bett. Ein neuer Geruch waberte durch das Schlafzimmer. Ich hatte ihn fast vergessen, aber jetzt kam er mir wieder vertraut vor. Tina!
Plötzlich war der Traum wieder in meinem Kopf. Mir schossen die Tränen in die Augen, versuchte die Zeichen zu deuten. Wie konnte das sein, wer hatte das Bett benutzt und wieso roch es plötzlich nach meiner Frau?
Im Bad lag ein Lippenstift von Tina auf dem Waschbecken und in der Küche stand eine benutzte Tasse auf dem Tisch. Was passierte hier, wer oder was war in der Nacht bei mir? Rational erklären konnte ich es nicht, und doch, es war wie ein Zeichen von Tina. Von da an wußte ich, egal wie ich mit Freya umgehen würde, Tina würde an meiner Seite sein und jede meiner Entscheidungen begleiten, wie sie es immer getan hatte. Ich hatte nicht das Gefühl, mich deshalb grundsätzlich gegen Freya entscheiden zu müssen. Genau andersherum wurde ein Schuh draus. Ich wusste plötzlich, egal wie ich mich entscheiden würde, Tina würde es verstehen und mittragen.
Als hätte man mich kräftig geschüttelt, fiel mit einem Mal jeder Zweifel von mir ab. Jeder Vorbehalt löste sich in Wohlgefallen auf. Und wie, als hätte man mir eine Brille mit eingetrübten Gläsern abgenommen, sah ich alles klar.
Gut gelaunt ging ich unter die Dusche, setzte mich in eine Ecke und ließ das Wasser auf mich herabprasseln. Mit jedem Tropfen der mich traf, ging es mir besser.
Befreit meiner Zweifel, hatte ich es nun eilig in die Stadt zu kommen. Ich brauchte etwas, was meine Entschuldigung bei Freya und bei Nadine gleichermaßen unterstrich. Blumen kamen nicht in Frage, dass hatte sie bereits bei der Einladung ausgeschlossen. Ich brauchte etwas, dass Bestand hatte, etwas, das von Dauer war und die Verbundenheit mit beiden Frauen ausdrückte. Ein Ring vielleicht? Nein, das war für den Anfang doch etwas ‚to much‘.
Und trotzdem war ich nach einigem Zögern in einem Juwelierladen gelandet. Eine junge Frau sah mich unschlüssig durch die Auslagen schleichen.
„Kann ich vielleicht helfen?“
„Vielen Dank, Ich suche etwas Schönes, das Verbundenheit ausdrückt, ohne zu aufdringlich zu sein.“
„Ui, das ist ja mal eine besondere Herausforderung. Aber warten Sie, ich habe da eine Idee.“
Sie zeigte mir ein paar schöne Stücke und überzeugte mich schnell. Tatsächlich war es ihr gelungen etwas zu finden,
was sowohl Frauen als auch Männer tragen konnten. Ich fühlte mich perfekt vorbereitet. Jetzt musste ich nur noch die passenden Worte finden, dann könnte es, so Gott will, alles gut werden. Soweit die Zusammenfassung.
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Den ganzen Tag schon bin ich nervös und mein Herz pocht. Vor Aufregung ist mir heiß und kalt gleichzeitig. Vielleicht war das die gerechte Strafe dafür, dass ich mich wie ein Idiot benommen hatte. Mir schlottern die Knie, als ich den Klingelknopf drücke.
„Ja, hallo?“ Wie hatte ich Nadine’s Stimme vermisst und ihre kurzen Nachrichten.
„Ich bin’s, Leon.“
„Was willst du?“, fragt sie deutlich pissig.
„Mit euch reden, bitte.“
„Lass ihn rein.“, höre ich Freya aus dem Hintergrund. Oben angekommen steht Nadine in der Tür und sieht mich strafend an.
„Mit dir haben wir nicht mehr gerechnet.“, keift sie.
„Lass mich doch bitte erstmal reinkommen.“
Freya kommt aus dem Wohnzimmer auf den Flur. Sie sieht müde aus.
„Hallo Leon! Sie hat recht, mit dir haben wir nicht gerechnet. Ich habe nichts vorbereitet.“
„Das macht nichts. Können wir irgendwo zusammen reden? Wir drei? Und wenn ich dann soll, fahre ich sofort wieder. Wenn nicht, sehen wir weiter.“
Freya tritt einen Schritt zur Seite und lädt mich mit einer Handbewegung in ihr Wohnzimmer ein. Nadine, immer noch mit angefressener Mimik, folgt mir.
Ich darf mich auf die Couch setzen, Freya setzt sich auf einen Sessel und Nadine auf die Lehne des gleichen Sessels. Nadine legt noch ihren Arm um die Schulter ihrer Mutter um zu demonstrieren, dass die zwei Frauen zusammengehören und sich einig sind.
Nun sitze ich, wie auf einer Strafbank und vier Augen warten gespannt auf meinen Vortrag. Ich hatte gesagt, WIR wollten reden, von einem Monolog meinerseits war nicht die Rede. Nun gut, ich hatte mir die Suppe eingebrockt, nun musste ich sie auch auslöffeln.
„Ich muss mich bei euch entschuldigen. Bei euch beiden. Freya, bei dir besonders. Ich war im Schuhgeschäft und auch davor, wohl nicht bei Sinnen. Meine Reaktion war völlig unangebracht und falsch. Bitte verzeih mir!
Und du Nadine, hast dir eigentlich einen Orden dafür verdient, wie du dich um mich bemüht hast. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen. Du bist mir ans Herz gewachsen und ich wäre sehr traurig, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest. Bitte entschuldige, ich gelobe Besserung.
Aber jetzt das Wichtigste: Freya, du hast mir gesagt, dass du dich unsterblich in mich verliebt hast. Das hast du wirklich schön gesagt und mich damit wirklich berührt. Ich wollte es mir erst nicht eingestehen und schon gar nicht zulassen, dass es mir im Grunde schon längst genauso geht. Ich bin einfach feige gewesen, habe mich vor der Meinung anderer gefürchtet. Ich war so unendlich dumm. Freya, ich liebe dich auch und ich würde mir nichts mehr wünschen, als mit dir, mit euch an meiner Seite, meine Zukunft neu erleben zu dürfen. Könnt ihr mir verzeihen? Wollt ihr meine neue Familie sein?“
Nadine springt auf und fliegt mir förmlich an den Hals und knutscht mich überall im Gesicht ab. „Ja, ja, ja, ich will!“, flötet sie, „Du doch auch Mama … oder?“
Freya ist sitzengeblieben, unfähig etwas zu sagen. Ihre Unterlippe zittert und dicke Tränen sammeln sich in ihren Augen. Ihre Knie eng zusammengepresst, die Ellenbögen darauf abgestützt, schlägt sie ihre Hände vor ihr Gesicht.
Ich muss aufstehen, löse mich von Nadine, die ihre Mutter ungläubig ansieht, knie mich vor Freya und versuche sie in den Arm zu nehmen.
„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht so überfallen. Ich dachte, dich mit meinem Geständnis glücklich zu machen.“
Jetzt nimmt Freya ihr Gesicht aus den Händen und sieht mich mit rot verweinten Augen an: „Das hast du, mein Schatz, das hast du. Und ja, ich möchte dich begleiten in eine neue Zukunft.“
Zusammen setzen wir uns auf die Couch. Ich in der Mitte, mit den wohl schönsten Frauen der Welt in meinen Armen.
„Und was machen wir jetzt, mit dem angebrochenen Abend?“, Nadine schaut uns fragend an.
„Als erstes möchte ich unseren neuen Bund besiegeln und dann werden wir zum Italiener gehen, einverstanden?“
Ich öffne die Schachtel, die mir beim Juwelier in eine kleine Tüte gesteckt wurde. Ein Armband mit einem Namensplättchen für Freya und genau das Gleiche auch für Nadine. An den Namensplättchen, auf denen mit geschwungener Schrift ihre Namen eingraviert sind, sind Ketten angebracht. Etwas gröbere Glieder, so dass sie den Strapazen des Alltags gewachsen sind und doch fein genug, um zu passender Abendgarderobe getragen werden zu können.
Ich selbst habe mir ein Armband machen lassen, mit der gleichen Namensplatte, auf der ‚Leon‘ graviert ist, habe allerdings auf Kettchen verzichtet und mich stattdessen für Lederriemen entschieden. Die Namensplättchen von Freya und mir sind austauschbar, so dass sie meinen und ich ihren Namen tragen kann.
Nacheinander lege ich die Armbänder um die schlanken Handgelenke der Frauen, die mich mit strahlenden Augen dabei ansehen. „Ich liebe dich, Leon Stolberg. Das Armband ist wunderschön.“
„Und es hat etwas ganz Besonderes. Wenn wir die Plättchen aneinanderhalten, ziehen sie sich magnetisch an. Seht ihr? Das bedeutet, wir gehören zusammen, alle drei. Denn ich weiß Freya, dich gibt es nicht ohne Nadine und umgekehrt. Das passt auch ganz gut so, weil ich auf keine von euch beiden in Zukunft verzichten möchte.“
Nadine dreht die ganze Zeit an dem Armband und starrt es an. Eine Weile später hebt sie den Kopf und sieht mich an.
„Man, man, Herr Stolberg, da haben Sie gerade nochmal die Kurve gekriegt.“, lacht sie und schmiegt sich fest an mich.
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Ich musste auf meine Frauen warten, bis sie sich zur Feier des Tages landfein gemacht hatten. Viel zu schick, für einen Abend bei Pizza, Nudeln und Rotwein. Mit stolz geschwellter Brust führe ich meine Damen in das Restaurant.
„Hey Leon, einen Tisch für drei, Signore?“
„Ja und bitte etwas ruhiger.“
„Ahhh si, verstehe. Allora, bitte hier entlang.“
Zwei Stunden später sind wir alle satt, zufrieden und rundum glücklich. Die Hochstimmung kommt bestimmt auch von dem leckeren Rotwein und dem Grappa ‚auf‘s Haus‘. Fahren kommt für mich nicht mehr in Frage.
„Nehmen wir uns ein Taxi, und dein Auto holen wir morgen!“, bestimmt meine Freundin.
„Gute Idee, Prinzessin und wie soll ich nach Hause kommen?“
„Gar nicht, du schläfst bei uns.“, bestimmt sie schulterzuckend.
Sollte schon heute, der Moment der Wahrheit kommen? Vielleicht wäre es nicht so schlimm, wenn ich einfach auf der Couch schlafen würde. Mit dem Vorschlag halte ich mich besser erstmal zurück.
Fortsetzung folgt …
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