Sehen

Irgendwann ist Schluss

Claudia Carl

Er wollte 90 werden
Oder ewig leben
Doch mit 87
Hatte er keinen Hunger mehr
Der Schokomuffin trocknete
Und stand noch nach Wochen
Auf dem Tisch

Schon länger war der andere Hunger versiegt
Ein Alarmzeichen
Beim lüsternen Champagnermann
Bis vor Monaten begrüßte er zuerst die Titten
Mit seinen langen Fingern
Schätzchen zeig mal
Ich kann jetzt auch lecken
Zu unserer Zeit vor 20 Jahren
War das nicht so sein Ding

Dafür waren seine langen Finger magisch
Einer davon genügte
Am besten im frivolen Ambiente
Des Pornokinos
Im schrägen Winkel vom Sitz nebenan
Traf er alle neuralgischen Punkte

Aber auch seelisch
Wenn er Nutten heimbrachte
Und die ganze Nacht im Rausch versackte

Ein Wassermann vom Feinsten
Lockend und locker
Bloß nicht zu ernst werden
Take it easy
Und leg mich nicht fest

Im Krankenhausbett
Er kann nicht mehr sprechen
Die Finger sind noch länger geworden
Der Körper ein Gerippe
Der Mund möchte Laute formen
Vergebens

Seine Finger deuten eine Schere an
An seinen grauen Locken
Ich würde ihm gerne
Noch einmal die Haare schneiden
Wie vor Wochen in seiner Küche
Mit der Lüge ich hätte das kürzlich gelernt
Denn er war penibel
Sah aber trotzdem hinterher besser aus
Und war glücklich

Jetzt stammelt er verzweifelte Laute
Ich soll gehen
Besuch ist anstrengend
So kurz vorm Sterben
Ich küsse seine Wange
Flüstere ihm Liebes ins Ohr
Dann nehme ich seine Finger
Und lege sie auf meinen Busen
Seine Augen werden riesig
So gerne hätte er jetzt noch etwas gesagt

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